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Vereinte stille Versunkenheit mit pianistischer Strahlkraft: Swjatoslaw Richter, Spross der von ihm ungeliebten sowjetischen Musikkultur.

Foto: EPA/Tass

Apolitisch: Der russische Jahrhundertpianist Swjatoslaw Richter (1915- 1997) war sich vielfach selbst ein Rätsel. Überliefert ist seine Bescheidenheit. Seine besten Aufnahmen sah er als gescheitert an. Mikrofone mussten vor ihm in Blumenvasen versteckt werden. Gegen Gedächtnislücken wappnete er sich, indem er die Noten zwar vor sich liegen hatte, die meisten Seiten aber überblätterte. Richter war ein Spross der Sowjetkultur. Sein Desinteresse an Politik stellte er, sehr zum Unmut der Behörden, offen zur Schau. Viele Eigenheiten, darunter seine notorische Menschenscheu, versteht man erst mit Blick auf seine erstaunliche Biografie.

Biografie: Richters Vater, seinerseits ausgebildeter Pianist, hatte lange Jahre in Wien verbracht. Als die Familie nach Odessa übersiedelte, brachte der Papa die Seinen als Chorleiter durch. Swjatoslaw wechselte blutjung an das Moskauer Konservatorium. Er wurde aus dem Stand der Meisterschüler des berühmten Heinrich Neuhaus. Als solcher versetzte er mit seinem unbeirrt präzisen Spiel das Publikum in Ekstase.

Enigma: Das Rätsel nennt sich eine äußerst sehenswerte Filmdokumentation von Bruno Monsaingeon über die frühen Jahre Richters. Man begleitet den schwierigen Mann mit dem Kopf eines römischen Senators durch seine Kindheitslandschaft. Richters Vater, im Kriegsjahr 1941 schon wegen seines deutschen Namens suspekt, wurde von Stalins Schergen erschossen. Bereits zuvor lebte die Mutter mit einem Mann zusammen, der später den Namen Richter annahm und sich sogar als Bruder des erschossenen Ehegatten ausgab. Der Tastengott litt zeit seines Lebens an den verworrenen Verhältnissen. Als er im belagerten Leningrad für die hungernde Bevölkerung aufspielte, riet man ihm im Guten, die Stadt schleunigst zu verlassen. Wegen seines deutsch klingenden Namens könne man für seine Sicherheit nicht garantieren.

Plädoyer eines Kollegen

Gilels: Lange genug war der Pianist Swjatoslaw Richter im Westen ein Unbekannter. Es blieb dem Kollegen Emil Gilels vorbehalten, für Richter die Werbetrommel zu rühren. Als Gilels auf einer US-Tournee das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss, wehrte dieser bescheiden ab und sagte: "Richter müssen Sie gehört haben!" Im Oktober 1960 war es so weit. Richter spielte fünf Abende in der New Yorker Carnegie Hall und wurde prompt als Sensation gehandelt. Die Firma Columbia ließ 60.000 Dollar für die Tonaufnahmen springen. Der Virtuose sah keinen müden Cent, die Sowjetbehörden strichen das Geld zur Gänze ein.

Hämmern: Immer wieder verblüffend ist Richters Anschlagskultur. In den 1950er-Jahren durchpflügt er Partituren von Rachmaninow und Prokofjew in rasender Eile, ohne auch nur ein einziges Detail zu unterschlagen. Genannt sei die DGG-Aufnahme des zweiten Rachmaninow-Konzerts in c-Moll (1958, die Warschauer Philharmoniker musizieren unter der Leitung von Stanislaw Wislocki). Bei aller Kraft findet Richter Muße genug, die oft als parfümiert gescholtene Lyrik erblühen zu lassen.

Repertoire: Kaum hat man Richters Einspielung des Wohltemperierten Klaviers wegen ihrer beinahe religiösen Inbrunst ins Herz geschlossen, da lernt man schon seine Schumann-Exegese schätzen, oder bewundert die überlegene Klangkultur seiner Debussy-Einspielungen. Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, Swjatoslaw Richters Vorlieben auf einen einfachen Begriff zu bringen. Prokofjews motorische Spottlust spielt seiner zurückhaltenden Intelligenz ebenso in die Karten wie Beethovens Wille zur Monumentalität. Über allem steht das Ideal absoluter Klangreinheit. Auch wenn einige Livemitschnitte belegen: Richter konnte grandios danebengreifen.

Stiller Mystiker

Schubert: Sogar sein stillschweigender Konkurrent als Bach-Pianist, der wunderliche Kanadier Glenn Gould, räumte ein, niemanden besser Schubert spielen gehört zu haben als eben Richter. Der Kopfsatz der berühmten letzten Sonate in B-Dur (DV 960) schwillt unter den Händen dieses andächtigen Mystikers zu einer schier endlosen Meditation an. In ihrer ergreifenden Schlichtheit ist auch die kleine A-Dur-Sonate (DV 664) kaum jemals überzeugender musiziert worden, trotz Kempff und Brendel.

Spätstil: Richters späte Jahre ergeben ein widersprüchliches Bild. Der Virtuose konzertierte in zum Teil äußerst entlegenen Sälen und wünschte die Beleuchtung bis auf ein Minimum heruntergedimmt. Sein Spiel wurde zunehmend verinnerlichter. Swjatoslaw Richter, der mit einer klassischen Sängerin verheiratet war, privat malte und trotz seiner Schüchternheit ein Talent für Geselligkeit besaß, starb 1997 in Moskau an einer Herzkrankheit. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 20.3.2015)