Immer wenn in der Europäischen Union wirklich der Hut brennt und eine Katastrophe unmittelbar droht, müssen die beiden größten und politisch stärksten Nationen der Union – Deutschland und Frankreich – das Ruder fest in die Hand nehmen. Das war vor einem Monat so, als es nach einer militärischen Offensive der Separatisten galt, in Minsk den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einer erneuerten Vereinbarung über einen Friedensplan für die Ukraine zu zwingen. Damals hatte Kanzlerin Angela Merkel den Anstoß gegeben – über all die vielen Köpfe und Köche in den Institutionen der EU und der nationalen Regierungen hinweg.

Und das war auch in der Nacht auf Freitag in Brüssel so, als sie und der französische Staatspräsident François Hollande den griechischen Premierminister Alexis Tsipras in Sachen Eurohilfen zur entscheidenden Konfrontation trafen. Kleiner, aber wichtiger Unterschied: Anders als beim außen- und sicherheitspolitischen Thema Ukraine, bei dem die Gemeinschaft kaum eine Rolle spielt und die Nationalstaaten dominieren, saßen diesmal die wichtigsten Vertreter der gemeinschaftlichen Institutionen mit am Tisch: Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem und EZB-Chef Mario Draghi. Eingeladen hatte – auf dringenden Wunsch von Tsipras übrigens – der Ständige Ratspräsident Donald Tusk.

Nur EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wurde nicht eingeladen, ein kleines Foul der Regierungen, aber auch – ganz nüchtern betrachtet – der Ausdruck dafür, dass das Europäische Parlament bei den Eurorettungsprogrammen seit fünf Jahren keine entscheidende Rolle spielt. Das Geld kommt zum allergrößten Teil von den Staaten, beschlossen von den nationalen Parlamenten, nicht aus EU-Mitteln.

Leichte Proteste dagegen, dass die beide "Eurosupermächte" das wichtigste wirtschaftliche und politische Problem derzeit an sich reißen, kamen von Regierungschefs kleiner Staaten. Auch von Kanzler Werner Faymann. Völlig zu Recht. Es wird oft übersehen, dass alle Eurostaaten im Verhältnis zu ihrer Größe zu gleichen Anteilen bei den Hilfen mitzahlen – und das reiche Deutschland nicht mehr zur Kasse gebeten wird als andere. Jedes auch noch so kleine Land muss also die Möglichkeit haben, in die Entscheidungen dazu voll eingebunden zu werden.

Das findet in der Regel auch im Rahmen der Eurogruppe auf Ebene der Finanzminister statt. Dort hat jeder Rederecht und kann mit Veto blockieren. Warum war es dennoch sinnvoll und nötig, dass dieses Treffen mit Tsipras in diesem EU-rechtlich nicht vorgesehenen "Format" stattfand? Was bedeutet es, dass Tsipras zwischen Juncker und Tusk saß, genau vis-à-vis von Merkel und Hollande? Und vor allem: Was bedeuten die Beschlüsse, die überraschenderweise in einer kurzen schriftlichen gemeinsamen Erklärung festgehalten wurden?

Erstens: Es zeigte sich, dass die Budgetlage in Griechenland weit dramatischer ist, als dies bisher von der links-rechts-populistischen Regierung in Athen öffentlich kommuniziert wurde. Tsipras hat zu Beginn des Gesprächs versucht, die Partner davon zu überzeugen, dass sie ihm vorläufig eine "Zwischenfinanzierung" gewähren, noch bevor das zweite Hilfsprogramm – wie am 20. Februar in der Eurogruppe vereinbart – abgeschlossen ist bzw. die gemeinsam beschlossenen Reformen auf Schiene sind. Draghi machte ihm dann klar, dass er mit solchen weiteren Auszahlungen nicht rechnen dürfe, weil dafür die rechtlichen und formalen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Die EZB, aber auch etwa der IWF würden ihre eigenen Statuten verletzen, wenn nicht Klarheit über die budgetäre Lage geschaffen werde – von den nationalen Parlamenten, die die Hilfsprogramme in allen Details beschließen, einmal abgesehen.

Zweitens: Merkel und Hollande drängten dann nach Informationen von Beobachtern darauf, dass Tsipras die Verzögerungstaktik, die sein Finanzminister Varoufakis seit vier Wochen eingeschlagen hat, beendet. Die Experten der Troika der Geldgeber müssten von Athen endlich belastbare Zahlen bekommen, um ihren Bericht erstellen zu können. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem brachte ein, dass die Zeit knapp werde, weil der Abschluss spätestens Ende April erfolgt sein müsse, inklusive eines Beschlusses der Eurofinanzminister.

Drittens: An diesem Punkt nahm das Gespräch offenbar eine entscheidende Wende. Der griechische Premierminister selber wies seine Gesprächspartner darauf hin, dass er so lange nicht Zeit habe, weil schon Ende März die Zahlungsunfähigkeit, also eine Pleite seines Landes, drohe, wenn vorher nicht neue Milliardenkredite kommen.

Viertens: Das ist der Grund, warum man in der gemeinsamen Erklärung am Ende davon sprach, dass Tsipras so rasch als möglich eine Liste mit von ihm gewünschten Reformen vorlegen werde. Merkel sagte in ihrer nächtliche Pressekonferenz, das werde schon "in wenigen Tagen" erfolgen. Und sie fügte hinzu, dass alle Entscheidungen dazu von den Eurofinanzministern getroffen werden, nach vorheriger Prüfung durch die Troika-Experten. Am Rande des EU-Gipfels war schon davon die Rede, dass die Eurogruppe bereits in einer Woche in Brüssel zusammentritt.

Fünftens, der wichtigste Punkt: Tsipras hat diesem Ablaufszenario nicht nur zugestimmt, er hat damit auch persönlich die Verantwortung übernommen, dass die seit vier Wochen verschleppte "Reformliste" nun, mit Fakten und Zahlen unterlegt, auf den Tisch kommt. Da das auf der höchstmöglichen Ebene, jener der Regierungschefs und EU-Präsidenten, geschah, wäre ein Scheitern fatal. Verschieben und Ausreden, wie noch auf Finanzminister- und Expertenebene, sind nun nicht mehr möglich. Wenn der griechische Premier in den kommenden zehn Tagen nichts zusammenbringt, wird Griechenland unaufhaltsam in die Pleite schlittern. Merkel und Hollande haben ihm klargemacht, dass er mit Extrawürsten nicht rechnen kann; dass dies bei den 18 Europartnern nicht drin ist.

Der Schluss daraus: Die schwierigste Aufgabe steht Tsipras jetzt bevor, wenn er nach dem EU-Gipfel nach Hause kommt. Er wird der Bevölkerung erklären müssen, dass viele der Wahlversprechen in absehbarer Zeit nicht umzusetzen sind; dass die Lage viel schlimmer ist, als sie bisher dargestellt wurde; und dass die Europartner zwar zu weiterer Hilfe bereit sind, nicht aber zu Geschenken. Der Premier wird seinen Landsleuten wohl eine "Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede" halten müssen. (Thomay Mayer, derStandard.at, 20.3.2015)