"Es wird immer Diebstahl geben. Wenn es nicht die einen machen, machen es die anderen": Jugendrichterin Beate Matschnig.

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STANDARD: Im Vorjahr war die Kriminalität auf einem Tiefstand, dennoch sind die Gefängnisse voll. Wie erklären Sie sich das?

Beate Matschnig: In Österreich wird schneller in U-Haft genommen als in anderen Ländern. Bei den Jugendlichen hat es sich jetzt aber reduziert, und es wird jetzt viel vom Justizministerium getan – ich hoffe doch, dass wir die Zahlen massiv senken werden.

STANDARD: Der Entwurf für die Strafrechtsreform liegt vor, wird sie die Gefängnisse entlasten?

Matschnig: Ein Jugendlicher, der eine Unterhose, einen Sweater und ein Leiberl gestohlen hat und wegen gewerbsmäßigen Diebstahls angeklagt wird, weil er kein Inländer ist, der kommt sofort in Untersuchungshaft. Nach der Novelle wird das ein normaler Diebstahl sein, dann gibt es keine U-Haft. Das ist gut so – es wird eine Entkriminalisierung bringen.

STANDARD: Sie sagen "weil er kein Inländer ist". Warum?

Matschnig: Wenn ein Ausländer zwei Paar Socken und einen Pullover für sich nimmt, wurde das bis jetzt fast immer als gewerbsmäßiger Diebstahl angeklagt, weil man sagt, er hat keinen Wohnsitz hier, er hat kein Einkommen, er beschafft sich also die Sachen, um sich ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen. Nach dem neuen Strafrecht ist es natürlich immer noch strafbar, aber er kommt nicht in U-Haft. Wobei man Gewerbsmäßigkeit auch bei manchen Inländern angenommen hat – vor allem bei Jugendlichen, wenn sie zum Beispiel immer wieder Schminksachen stehlen.

STANDARD: Bei einem Sprössling aus begütertem Hause …

Matschnig: … hat man es nicht angenommen, nein. Weil da sagt man: Der hat das ja nicht gemacht, um sich eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen – sondern weil ihm fad im Kopf ist.

STANDARD: Auch die Wertgrenzen sollen angepasst werden: Früher war ein Diebstahl einer 4000-Euro-Uhr ein schwerer Diebstahl, jetzt ist es nur noch ein leichter. Gut so?

Matschnig: Das ist ein Gebot der Stunde. 3000 Euro heute sind ja viel weniger, als es früher 40.000 Schilling waren.

STANDARD: Wie stehen Sie zu höheren Strafen bei Körperverletzung?

Matschnig: Es ist die richtige Botschaft: Es gab ja immer die berechtigte Kritik, dass man für Vermögensdelikte hohe Strafen verhängt, während bei Körperverletzung relativ wenig passiert. Das ändert sich jetzt. Mich stört nur, dass es bei der schweren Körperverletzung jetzt eine Untergrenze von sechs Monaten Haft geben wird. Da braucht nur einer eins auf die Nase zu kriegen, und die ist leicht verschoben – da finde ich sechs Monate Untergrenze hart.

STANDARD: Die Diversion soll teils eingeschränkt, teils ausgeweitet werden. Zugleich stehen die Staatsanwaltschaften unter Effizienzdruck, Diversion braucht aber Zeit. Wie passt das zusammen?

Matschnig: Die Diversion ist ein Erfolgsmodell. Ja, es macht viel mehr Arbeit – und die Staatsanwaltschaft ist gezwungen, effizient zu arbeiten. Überall dort, wo Sie hohen Druck machen, dass möglichst effizient, also schnell, gearbeitet wird, bleibt die Zeit, die Sie mit dem Einzelnen verbringen, auf der Strecke. Wenn es nur noch um Erledigungszahlen geht, ist die Qualität sicher nicht mehr vorrangig.

STANDARD: Wie gelang es, die Jugend-U-Haft-Zahlen zu senken?

Matschnig: Es hat sicher ein Umdenken eingesetzt bei uns, durch die Geschichte, die bei uns passiert ist (Übergriffe unter jugendlichen Häftlingen im Sommer 2013, Anm.). Man beschäftigt sich mehr mit der Frage: Muss das sein, dass wir sie einsperren? Wir entwickeln uns ja alle weiter – würden wir nur das System von früher übernehmen, hätten wir jetzt noch Folter, Wasser und Brot. Außerdem gibt es neue Alternativen, die Sozialnetzkonferenz und Wohngruppen. Je mehr Angebote der Richter hat, desto weniger muss er auf Haft zurückgreifen.

STANDARD: Welche Rolle spielt Sucht im Jugendstrafvollzug?

Matschnig: Es ist bei vielen ein Thema, wobei es nicht nur verbotene Substanzen sind, es kann auch viel Alkohol sein. Die Sucht spielt eine Rolle in ihrer Struktur, sie sind einfach sozial dann schon so weit unten, dass sie schneller in die Kriminalität rutschen: Sie müssen die Suchtmittel aufstellen, sie verwahrlosen mit der Zeit körperlich und psychisch, finden keinen Anschluss an ein soziales Netz und keinen Job mehr. Manche gehen einbrechen, wenn sie nichts mehr verkaufen, die Mädel gehen auf den Strich, was meiner Meinung nach noch viel schlimmer ist – zwar nicht strafrechtlich, aber persönlich, es zieht sie hinunter.

STANDARD: Unter einem Interview mit Ihnen wurde gepostet: "Dass so viele Ausländer im Gefängnis sitzen, verschweigt die Dame vornehm." Zu Recht?

Matschnig: Für mich ist es völlig egal, ob da ein 15-jähriger Inder oder ein 15-jähriger Niederösterreicher sitzt. Natürlich haben wir mehr Ausländer, das haben wir ja nie verschwiegen. Inländer werden ja viel weniger in Untersuchungshaft genommen. Aber in dem Bemühen, wie wir das Beste für diese Jugendlichen machen können, macht es keinen Unterschied, woher sie kommen.

STANDARD: Auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache meldete sich unlängst wieder zu diesem Thema zu Wort: Er forderte "Stopp dem Kriminaltourismus und Herkunftslandprinzip für Häftlinge". Was antworten Sie ihm?

Matschnig: Innerhalb der EU kann man ja jetzt schon Häftlinge zurückschicken und macht das auch. Zum Thema Kriminalitätstourismus: Was will er denn, die Grenzen dichtmachen? Es wird immer Diebstahl geben, und wenn es nicht die einen machen, machen es die anderen. Ich kann nur schauen, wenn jemand straffällig geworden ist, dass er es nicht mehr wird. Schauen Sie in Länder, wo es die Todesstrafe gibt: Sie schreckt nicht ab, von gar nichts.

STANDARD: Wie sieht der typische Kriminalitätstourismus aus?

Matschnig: Das sind meist Junge, die von Clans hergebracht werden, um zu klauen. Zugenommen hat das Phänomen nicht, aber wir wissen heute mehr darüber, weil wir international stärker vernetzt sind. Das teuerste, weil geschickteste Kind ist in London um 20.000 Pfund verkauft worden, das wissen wir von Interpol.

STANDARD: Was müsste sich strukturell verändern, damit Straftäter nicht rückfällig werden?

Matschnig: Wir brauchen eine Bekämpfung der Armut. Wir haben mit vielen Jugendlichen zu tun, wo gar nichts da ist – dass die kriminell werden, wundert mich nicht. Unsere Jugendlichen sind nicht aus dem gutbürgerlichen Milieu. Wenn sie bei uns landen, ist vorher schon viel passiert. Wir können dann nur noch versuchen, es wieder auszugleichen. (Maria Sterkl, DER STANDARD, 21.3.2015)