Hannah Rieger: Kunst als Spiegel im Unternehmen

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STANDARD: Im Jahr sieben nach Ausbruch der Krise: Kunst und Wirtschaft - ist das ein randständiges Thema geworden?

Rieger: In gewisser Weise ja. Kunst sammelnde Unternehmen, oft in Konkurrenz zu den großen Museen, sind weniger geworden. Viele Banken und Versicherungen haben ihre Engagements drastisch reduziert. Auch der zunehmende Entfall öffentlicher Budgets für Kunstprojekte wird sichtbarer. Gerade in herausfordernden Zeiten kann Kunst Impulse für Kreativität und Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft setzen. Wann, wenn nicht jetzt, sollen Kunstprojekte von Wirtschaftsunternehmen wieder thematisiert werden? Möglicherweise sind sie weniger spektakulär und auch kleiner im Umfang geworden. Genauso wie Nachhaltigkeitsprojekte müssen Kunstaktivitäten zum Kerngeschäft und zur Identität des Unternehmens passen. Der Immobilienentwickler, Hotelier und Bioweinproduzent Martin Lenikus zeigt beispielsweise, wie der temporäre Immobilienleerstand, der sich aus der Altstadtrevitalisierung ergibt, in passender Weise mit zeitgenössischer Kunst über Artist-in-Residence-Programme genutzt werden kann. Daraus entstanden die Sammlung Lenikus, eine Vielzahl von Ausstellungen und, beginnend mit April 2015, eine neue Diskussionsreihe "Kunst-Gespräche", die in seinem Wiener Innenstadthotel Lamée startet. Die Kunstaktivitäten sind betriebswirtschaftlich fundiert und wachsen in Einklang mit der Unternehmensentwicklung. Ein anderes Beispiel: Jahrzehnte nach seinem Tod wurde 2014 eine Monografie über den mittlerweile berühmt gewordenen Outsider-Künstler Josef Wittlich in jener Industriekeramikfabrik in Höhr-Grenzhausen präsentiert, wo dieser als Hilfsarbeiter tätig war. Die Besucher erlebten diese späte Würdigung eines ehemaligen Mitarbeiters als authentisch für die Werte dieses Familienunternehmens in Deutschland.

STANDARD: Was kann Kunst in der Wirtschaft leisten, was kann sie befördern und transportieren?

Rieger: Ganz plakativ: Emotion, Reflexion und Kommunikation. In Unternehmen gestaltet Kunst kreative Räume. In einem realen und einem symbolischen Sinn, wenn in den Räumen etwas emotional Bedeutsames stattfindet. Mit Kunst zu leben und zu arbeiten macht Freude. Und sie kann selbstverständlich sein und nicht elitär. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz Substanzielles: Um die eigene Identität und die des Unternehmens. Wer will ich / wollen wir sein und noch werden? Zur Beantwortung dieser Fragen dient Kunst als Spiegel. Wenn wir uns trauen hineinzuschauen, zeigt er uns unterschiedliche Ebenen der Reflexion für Personen und Organisationen. Kunst konfrontiert uns natürlich auch mit der Welt, in der wir leben und arbeiten, also mit unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem insgesamt. Hier ist auch eine interessante Schnittstelle zu sozialer und kultureller Verantwortung - der Nachhaltigkeitskultur in Unternehmen - sowie dem Diversity-Management. Wenn Diversity den bewussten Perspektivenwechsel in Richtung Akzeptanz von Vielfalt meint, dann kann Kunst vermitteln. Diversity ist auch jene Fachdisziplin, die eine Verbindung von Kunst und Inklusion herzustellen vermag. Und Kunst bedeutet natürlich immer Kommunikation im Hier und Jetzt und für Generationen. Sie lässt uns die Gegenwart erleben und stellt eine Verbindung zur Zukunft her. Diese Zukunft ist ja nicht eindeutig vorgegeben, sondern wird im Miteinander gestaltet.

STANDARD: Was hat Kunst mit Nachhaltigkeit in Unternehmen zu tun?

Rieger: Leider noch viel zu wenig. Wie sich die Verbindung zwischen Kunst und sozialer und kultureller Verantwortung genau gestaltet, bleibt noch zu erforschen. Ich sehe Ansatzpunkte einerseits in strategisch-konzeptiven Überlegungen - Stichwort Kerngeschäft und Unternehmensidentität - und andererseits in einer Berücksichtigung von Kunstprojekten in den Kriterien für das Nachhaltigkeitsreporting.

STANDARD: Gibt es noch das Klischee von der Kunstsammlung, die vom Geschmack der Direktorsgattin gestaltet wird?

Rieger: Ja, solche Beispiele kenne ich in Österreich noch immer. Das wird sich aus meiner Sicht erst dann ändern, wenn insgesamt klar wird, dass Kunstverständnis genau so viel Fachkompetenz erfordert wie betriebswirtschaftliches Know-how in der Unternehmensführung. Es braucht natürlich auch den Mut, in diesem vermeintlichen Randthema Konflikte zu wagen. Auf Deutsch gibt es ja die Begriffe "kultiviert" für Personen, aber auch "kulturlos" für Unternehmen.

STANDARD: Die große Transformation und Kunst - hat sie eine Schlüsselrolle?

Rieger: Kunst ist eine beständige Impulsgeberin für Wandel, Entwicklungen und Übergänge in Wirtschaft und Gesellschaft. Zentral sind dabei die Anstöße zur Reflexion - gewissermaßen die makroökonomische Spiegelfunktion der Kunst - und die Perspektivenerweiterung jener Menschen, die hier eine Schlüsselrolle spielen.

STANDARD: Frage an eine Art-brut-Sammlerin, die aus dem Bankengeschäft kommt: Was haben Sie an Wirkungsmacht der Kunst erlebt?

Rieger: Über viele Jahre haben meine persönlichen Art-brut-Bilder in unterschiedlichen Büros - vor allem Werke der Künstler aus Gugging - Menschen dazu angeregt, sich mit Art brut auseinanderzusetzen und Wegbegleiter zu werden. Kunstwerke in der Arbeitsumgebung regen zu schöpferischem Tun ebenso an wie zu Widerspruch, Diskussion und unkonventionellen Lösungen für komplexe Themen. Besonders positiv erlebte ich den Dialog mit den Kunstuniversitäten, der sich durch Ausstellungen von Professoren und ihrer jeweiligen Next Generation entwickelte. Nur im Miteinander und interdisziplinär werden wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen.

STANDARD: Was "schmerzt" Sie - auch als Art-brut-Sammlerin?

Rieger: Dass zeitgenössische Kunst und insbesondere Art brut in Österreich noch immer ein peripheres Thema ist. Mich schmerzt Respektlosigkeit gegenüber Künstlern. Denn sie zeigen uns in ihren zumeist radikalen Lebensentwürfen das Wesen der Menschen in all ihrer gegenwärtigen Orientierungslosigkeit.