Was war das doch für eine einfache Welt, als Europa noch klar in Ost und West geteilt war – dazwischen eingezwängt, aber nicht ganz unbeweglich, das neutrale Österreich. Man hat wohl gewusst, dass der Westen mit seinen Freiheiten das bessere System ist; man hat auch darauf gehofft, dass in einem wirklichen Spannungsfall zwischen dem hochgerüsteten Warschauer Pakt und der nachgerüsteten Nato Österreich verschont werden würde.

Der Warschauer Pakt ist mitsamt dem real existierenden Sozialismus verschwunden, die meisten vom Joch der russischen Unterdrückung befreiten Länder haben rasch in die Nato gedrängt. Und wurden im Verteidigungsbündnis viel rascher aufgenommen als in der Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft EU. Österreich ist bei alldem seltsam abseits gestanden: Anders als die freiheitshungrigen Völker des ehemaligen Ostblocks haben die Österreicher (mit Ausnahme einiger Sicherheitspolitiker aus dem schwarzen, teilweise auch aus dem blauen und sogar dem roten Lager) keine große Lust verspürt, sich der Nato anzuschließen.

Wir Österreicher haben aber auch die zivile Osterweiterung nicht wirklich gefördert – der militärischen Ausbreitung der Nato haben wir achselzuckend zugesehen, die EU-Osterweiterung haben wir mit Bedenken aufgeladen, anstatt sie zu fördern.

All das muss man sich in Erinnerung rufen, wenn jetzt gewaltige Aufregung entsteht, wenn die Volkspartei in ihren Programmentwurf den Absatz stellt: "Wir schätzen Europa als Garanten für Stabilität und Sicherheit. Wir haben ein hohes Interesse an stabilen und sicheren Verhältnissen nicht nur bei unseren unmittelbaren Nachbarn, sondern auch in weiter entfernten Ländern. Die Europäische Union spielt dabei eine entscheidende Rolle. Mit Blick auf die Weiterentwicklung der EU treten wir für eine gemeinsame europäische Armee ein."

Da liegt ein Hauch von Vision drin: Das Eintreten für eine gemeinsame europäische Armee greift die Ideen auf, die 1989 und in Folge in der damaligen Europäischen Gemeinschaft angedacht, breit diskutiert und in die Verträge von Amsterdam und Lissabon geschrieben, aber nie konsequent umgesetzt wurden. Europa ist zu unentschlossen, vielleicht auch zu feige, seine Rolle als Weltmacht wahrzunehmen, wie Parlamentspräsident Martin Schulz kürzlich in der "Zeit" beklagt hat.

Die Voraussetzungen wären ja geschaffen. In den europäischen Verträgen ebenso wie mit den zaghaften Versuchen, multinationale Eingreiftruppen zu schaffen. Auch Österreich hat sich ja schon an solchen Battlegroups beteiligt. Eingesetzt wurden sie halt noch nie.

Und: Auch Österreich hat – in seinem Verfassungsartikel 23j – alle rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, sich an einer Europa-Armee zu beteiligen. Wobei eine komplette Integration laut Artikel 23j, Absatz 4 wohl einer Volksabstimmung bedürfte.

Noch aber ist die Europa-Armee nicht einmal auf dem Papier existent, noch wird sie allenfalls von engagierten Europäern wie dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker als Projekt betrachtet.

Es ist eine Vision, die durchaus Überzeugungskraft gewinnen könnte, wenn man sich ehrlich dazu bekennt: Ein Europa, das seine sicherheitspolitischen Interessen eigenständig und womöglich ohne den großen Bruder USA wahrnehmen kann, das wäre etwas, wofür es sich lohnt, die alten Muster zu verdrängen. Für dieses Europa – und eben nicht für die Nato – könnte Österreich dann auch die ohnehin löchrig gewordene Neutralität aufgeben. Dass die ÖVP das zumindest als Langfristziel im Auge hat, ist eine ehrenwerte Vision – ob sie je umgesetzt wird, ist eine ganz andere Frage. Aber die stellt sich ohnehin bei jedem Parteiprogramm. (Conrad Seidl, derStandard.at, 30.3,2015)