Leicht zu lesen war die türkische Politik noch nie. Mit ihrer Kultur der Verantwortungslosigkeit, ihrem Hang zu Verschwörungstheorien und scheinbar schrankenlosem Populismus täuscht sie die eigenen Bürger nicht weniger als die Beobachter aus dem Ausland. Die Serie von Attentaten einer linken Splittergruppe, die mit erstaunlicher Leichtigkeit vorgeht und nun die Gesellschaft in Atem hält, führt wieder in das türkische Spiegelkabinett.

Während die konservativ-islamische Regierung mittlerweile jede Twittermeldung im Land auf politische Kritik kontrollieren lässt, können zwei Terroristen bewaffnet in den Justizpalast von Istanbul marschieren und einen Staatsanwalt in ihre Gewalt bringen. Sein Büro muss zuvor ausspioniert worden sein, wenigstens einer der beiden Geiselnehmer war der Polizei bekannt. Keine Glanzleistung der Behörden? Der Regierungschef gratulierte den Beamten für den Einsatz im Geiseldrama, das weder der Staatsanwalt noch seine Geiselnehmer überlebt hatten.

Doch man muss nicht den wüst anmutenden Theorien vom "tiefen Staat" in der Türkei folgen und dem angeblichen Bündniswechsel von Staatschef Tayyip Erdogan, weg von den Islamisten, hin zur Armee und dunklen Hintermännern, um festzustellen: Die Anschlagserie der DHKP-C fügt sich in das politische Klima der Türkei. In zwei Monaten sind Parlamentswahlen. Die Herausforderung des Staats durch die Terroristen kommt Regierung und Präsident sehr gelegen.

Denn nicht alles, aber sehr viel dreht sich in der Türkei in diesen Wochen um den Anspruch eines einzelnen Mannes auf absolute Macht. Erdogan will Präsident sein mit einer neuen Präsidialverfassung. Keiner laschen Verfassung wie in den USA, so hat Erdogan klargemacht, wo sich das Staatoberhaupt mit dem Kongress plagen muss. Ein "türkisches" Präsidentensystem soll es sein.

Dass Erdogan bei den Wahlen im Juni eine so hohe Zahl an Parteisoldaten ins Parlament bekommt, die allein eine neue Verfassung arrangieren könnten, scheint aus jetziger Sicht unrealistisch. Dafür müsste schon sehr viel passieren. Dafür müssten die Reihen in Regierung und Partei geschlossen, die letzten aufmuckenden Zeitungen gemaßregelt werden. Dafür darf es nicht zu Großdemonstrationen der Regierungskritiker am 1. Mai kommen. Dafür könnte ein Feldzug gegen Terroristen ein parates Mittel sein. (Markus Bernath, DER STANDARD, 3.4.2015)