Das täuschend einfache Haus für Kinder in Inzing von Scharfetter Rier, chirurgisch genau in den Ortskern zwischen Kirche und Gemeindeamt gesetzt.

Foto: David Schreyer

Der holzverkleidete Kubus des neuen Gemeindeamts in Fließ von Rainer Köberl und Daniela Kröss.

Foto: Lukas Schaller

Kinder, die Palmwedel für den Palmsonntag basteln, die Eltern vor dem Café in der Sonne. Vor dem Pfarrhof ein Brunnen und ein Lindenbaum. Hinter der Mauer Kirche und Friedhof. Inzing in Tirol ist ein Dorf mit allem, was dazugehört. Selbstverständlich, denkt man. Doch noch vor einem Jahr war das anders: Es gab keinen Platz und kein Café, Pfarrhof und Linde waren hinter einer hohen Mauer verschanzt.

Wie das kam? Es ist die Geschichte eines ungewollten Erfolges. Der 4000-Einwohner-Ort, rund 20 Kilometer westlich von Innsbruck, ist vom Speckgürtel der Landeshauptstadt eingeholt worden. Nicht nur Grund zur Freude, wie Bürgermeister Kurt Heel seufzt, der in seinem 23. Amtsjahr mit der plötzlichen Attraktivität seiner Gemeinde umgehen muss. "Inzing liegt auf der Schattenseite des Inntals, früher wollte hier kaum jemand hinziehen. Heute sind die Quadratmeterpreise um Innsbruck enorm gestiegen, und allein dieses Jahr haben wir 60 Neubauten!"

Die Folge: Der erst 1998 von Architekt Erich Guthmorget erbaute, mehrfach preisgekrönte langgestreckte Holzbau, der Gemeindeamt und Kindergarten aufnimmt, war schon wieder zu klein, erst recht als das Land Tirol auch die maximale Gruppengröße herunterschraubte. Ein neues Haus für Kinder musste her.

Wohlige Irritation

Man erwarb also den Grund direkt gegenüber. Zwei Wettbewerbe und vier Millionen Euro später steht hier ein neues Haus, mit Kindergarten, Kinderkrippe und Hort. Auf den ersten Blick sieht es täuschend einfach aus, fast wie die Kinderzeichnung eines Hauses. Weiß verputzt, mit hineingestanzten Fenstern und Satteldach. Doch auf den zweiten Blick stellt sich wohlige Irritation ein. Alles ist leicht verschoben, der Dachvorsprung minimal kurz, die Fenster proportional übergroß und scheinbar willkürlich verteilt. Wie ein Puzzleteil ins enge Dorfgefüge gesetzt, ist das Haus von keinem Punkt aus als Ganzes sichtbar. Die Stirnseiten blicken weit in den Ortsraum, die Längsseiten knicken sich an schmalen Gassen entlang. Ein raffiniertes Gebilde, das die Innsbrucker Architekten Scharfetter Rier hier ins Inzinger Herz gesetzt haben.

"Das Haus ist mit drei Geschoßen eigentlich höher, als es im Wettbewerb vorgesehen war," sagt Architekt Martin Scharfetter. "Aber so bekommt der horizontale Holzbau des Gemeindeamts einen verputzten vertikalen Bau als Gegenüber. Die Kombination aus Holz und weißem Putz findet sich auch bei den alten Bauten im Dorfkern." Mit dem Dorfhaus rückte man so nah wie möglich an den Nachbarbau heran, um eine schmale, autofreie Gasse zu schaffen, damit die Kinder zwischen Alt- und Neubau gefahrlos wechseln können.

Und das Rätsel der Fassade? "Ganz einfach: Die Fenster sind ebenso unterschiedlich groß wie die Kinder dahinter", sagt Architekt Robert Rier. Von innen bieten sie weitgerahmte Blicke über die Nachbardächer ins Inntal. Das Plus an Höhe zahlt sich hier aus. Farbenfroh und verwinkelt, wirkt das Dorfhaus von innen überraschend groß - und kindgerecht, wie Martin Scharfetter betont: "Der unregelmäßige Grundriss gibt den Räumen etwas Unhierarchisches, Freies."

Seit der Eröffnung im Mai 2014 haben sich Dorf und Platz als Vitaminspritze für den Ort bewährt. Das Café im Erdgeschoß belebt die vorher praktisch ausgestorbene Dorfgastronomie, im Winter gab es erstmals einen Weihnachtsmarkt. Im Oktober 2014 wurde das Projekt mit dem Tiroler Landespreis ausgezeichnet.

Mieten am Land

Einen ähnlichen Weg ging ein zweites Tiroler Dorf, doch mit anderem Ausgangspunkt und interessanten Umwegen. Fließ bei Landeck ist weit weg von jedem Speckgürtel, der Bezirk ist Abwanderungsregion. Postamt und Polizei im weit verstreuten 3000-Einwohner-Ort wurden geschlossen, der Lebensmittelladen sperrte vor sechs Jahren zu, die Bank schrumpfte zum Bankomaten. Auch hier gab es eine Dorfstraße, aber keinen Platz. Auch hier wurde in naher Vergangenheit in moderne Architektur investiert - den 2002 fertiggestellte kleinen, feinen Mehrzweckbau von awg aus Wien.

Die Frage stellte sich: Wie kann man als Ort überleben? Sind es in Inzing die Kinder, die die Mitte beleben, setzte man in Fließ auf die Jungen und die Alten. Denn sie sind es, die das Zentrum am meisten brauchen. "Heute sind oft beide Ehepartner berufstätig, das heißt, die Alten sitzen tagsüber allein am Berg", sagt Hans-Peter Bock, Bürgermeister seit 1998. "Wir wollten für sie Wohnraum im Ortszentrum schaffen, wo sie im vertrauten Umfeld sind, die Leute kennen, sich auch auf dem Gemeindeamt ein Formular ausfüllen lassen können." Also erwarb man auch hier ein Grundstück mitten im Ortskern, um dort Wohnungen zu errichten. Ein Novum hier auf dem Land, wo das Eigentum noch als selbstverständlich gilt. Wohnungen mieten, das war etwas für arme Leute.

Erleichterte Begegnungen

2012 lud man fünf Architekturbüros zu einem mehrtägigen Workshop mit Bürgerbeteiligung, geleitet vom erfahrenen Büro nonconform. Am Ende stand der Wunschzettel fest: Wohnungen, Arzt, Supermarkt, Jugendtreff und ein neues Gemeindeamt. Eine Woche später präsentierten die Architekten ihre Entwürfe den Fließern, die Jury kürte das Team aus Rainer Köberl und Daniela Kröss aus Innsbruck zu den Siegern. Ihre Idee: drei Gebäude, die sich um zwei Plätze gruppieren - einen Kubus aus Lärchenholz fürs Gemeindeamt an der Straße mit überdachtem Vorplatz und Brunnen, daneben Supermarkt und Arzt als langgestreckter Riegel. In zweiter Reihe, ein Stück hangabwärts, ein grob weiß verputzter, kompakter Wohnblock mit Ausblick ins Tal. "Jedes der Gebäude ist direkt vom Platz zugänglich. Das erleichtert die Begegnungen ", sagt Daniela Kröss.

Ende 2014 wurden die Bauten fertiggestellt, im April wird offiziell eröffnet. Im Gemeindeamt samt Bürgerbüro und Poststelle herrscht schon reger Betrieb. Bürgermeister Hans-Peter Bock sitzt in seinem neuen zirbenholzverkleideten Amtszimmer und ist zufrieden mit dem 6,5-Millionen-Euro-Projekt. "Bei den Bürgern höre ich nur Lob. Die Alten gehen wieder einkaufen und treffen dabei Bekannte. Die Mietwohnungen waren so schnell vergeben, dass wir schon Nachfolgeprojekte gestartet haben."

Die Lektionen aus Tirol? Dörfer brauchen keinen Bilbao-Effekt mit Architektur, die als eitler Solitär vom Himmel fällt. Denn bei der Operation am offenen Herzen des Ortskerns geht es vor allem darum, alle Generationen in die Mitte zu holen. Dann kann ein Haus einen Platz beleben, und beides ein Dorf. In Inzing und Fließ ist es gelungen. (Maik Novotny, DER STANDARD, 4.4.2015)