Manchmal ist es ein Nachteil, wenn man eine Yacht hat – wenn man eigentlich nur in Ruhe auf dem Mittelmeer kreuzen will und dann doch von Klängen ans Ufer gelockt wird: von Stevie Wonders Stimme, von Jazzröhre Joss Stone, von Manu Katchés Schlagzeug oder Stefano di Battistas Saxofonsoli.

Hie und da ist es aber auch ein Glück, so eine Yacht zu haben, für ein paar Stunden im seichten Wasser vor dem Strand von Juan-les-Pins bei Antibes Anker werfen zu können und es sich auf einem der Lounge-Sofas an Deck bequem zu machen. Dann etwa, wenn man einem ausverkauften Konzert lauschen will. Alles eine Frage der Perspektive.

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Hie und da ist es ein Glück, eine Yacht zu haben: Dann etwa, wenn man einem ausverkauften Konzert lauschen will.

Ein gewichtiger perspektivischer Nachteil bleibt aber für Yachtbesitzer: dass sie von dort die Musiker und ihre Show nicht sehen können. Denn die riesige Bühne beim Festival Jazz à Juan im Park La Pinède nur zehn Schritte vom Strand der Côte d’Azur ist zur Landseite ausgerichtet – für 1500 Zuhörer an zehn Tagen im Juli, mit bis zu drei Konzerten pro Abend. Die Zuseher blicken in Richtung Meer, erst in den Sonnenuntergang, dann auf die Sterne. Und immer auf die Musiker – seit mittlerweile 55 Jahren.

Urlaub nach dem Konzertkalender

Der Mann mit der Leopardenlook-Badehose ist nicht mehr da, spielt nicht mehr Trompete. Und auch die Frau, deren Stimme über fast drei Oktaven reichte, fehlt: Miles Davis, Ella Fitzgerald – alle weg. Aber ihre Songs sind noch da, ihre Melodien hallen unter den Pinien von Juan-les-Pins nach – und in den Köpfen der Gäste des Festivals, von denen viele seit Jahren, manche seit Jahrzehnten immer wieder kommen. Einige richten sogar ihren Urlaub nach dem Konzertkalender aus.

Dabei begann alles ganz klein, obwohl schon von Anfang an die großen Namen dabei waren: Josefine Baker und Duke Ellington etwa, später Little Richard, Chick Corea, noch später Gilberto Gil. Alle Größen der Zunft bis hinein in artverwandte Musikstile – und manche davon mehr als einmal. Die meisten haben einen Abdruck ihrer Hände im feuchten Beton der hiesigen Ruhmes-Allee des Jazz zwischen einem Kinderspielplatz mit Karussell und dem Strand der Côte d’Azur hinterlassen, zuletzt Stevie Wonder, der 2014 das erste Mal dabei war.

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Das Hotel Belles-Rives liegt in der Nachbarschaft des Jazzfestivals. Miles Davis zeigte sich dort am Badesteg in Leopardenlook-Badehose.

Marianne Estène-Chauvin, Direktorin des Hotel Belles-Rives in der Nachbarschaft auf dem Ansatzpunkt des noblen Cap d’Antibes, hat die Bilder noch genau vor Augen, die sich ihr als Kind auf dem Badesteg des großelterlichen Hotels boten: von Miles Davis in Leopardenlook-Badehose etwa, die er mit einer solchen Selbstverständlichkeit trug, als kleidete sich jeder so in den 1950er-Jahren auf dem Weg zum Meer. Sie lächelt bei dem Gedanken daran, hat seinerzeit auch Ella Fitzgerald kennengelernt.

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Einige der Künstler kommen wohl auch ganz gezielt wegen der Atmosphäre in Antibes. Keith Jarrett etwa ist dort schon dreizehn Mal beim Jazzfestival aufgetreten.

"Damals", sagt sie, "kamen die Künstler nicht bloß für ihren Auftritt. Sie waren auch wegen der Côte hier, wegen Sonne, Licht und Luft, wegen des Meeres und vor allem wegen dieser Atmosphäre." Noch heute gibt es einige, die es genauso machen. Jazz in Juan-les-Pins fühlt sich familiär an – spätestens, wenn beim Frühstück am Nebentisch Joss Stone sitzt, die am Abend ihren großen Auftritt haben wird. Oder wenn ihr Stacey Kent auf dem Weg über die paar Stufen hinunter zum Strand kurz zuwinkt. Sie war am Abend davor dran. Nur Stevie Wonder hat von diesem Charme nichts mitbekommen. Er brachte sich um die Chance, diesen Zauber zu spüren, weil er erst kurz vor dem Auftritt von Monte Carlo mit dem Heli einflog.

Kein Schaulaufen

Das Festival Jazz à Juan passt eigentlich gar nicht zur Côte d’Azur, und das ist es wahrscheinlich, was einen wesentlichen Teil des Erfolgs ausmacht: Die Veranstaltung ist kein Schaulaufen der Eitelkeiten, nicht beschränkt auf den Inner Circle einiger Millionäre, sondern bewusst bodenständig. Eine Abendkarte gilt für meist zwei, manchmal drei Konzerte, die mit nur einer halbstündigen Unterbrechung aufeinanderfolgen – und sie kostet in der besten Sitzkategorie 75, in der einfachsten nur 13 Euro. Wer sich fesch anziehen will, kann das gerne tun. Wer Jeans und T-Shirt an einem warmen Sommerabend vorzieht, fällt weniger auf: Jazz à Juan ist nicht das Chanel-Laufen in Paris.

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Immer wieder ziehen Musiker während der Festivalzeit spontan durch die Gassen in Juan-les-Pins.

An drei Festival-Tagen sind die Konzerte sogar gänzlich kostenlos – etwa in der großen Arena. Doch hie und da gehen die Künstler den umgekehrten Weg, kommen zu den Leuten und treten ohne konkrete Zeiten und genaue Ortsangaben in den Straßen und auf den Plätzen von Juan-les-Pins und Antibes auf.

Dann stehen auf einmal drei Mann mit Saxofon bis zu den Knien im Meer und improvisieren drauflos, plötzlich spielt einer Gitarre auf der Promenade in einer Klasse, die man einem "Straßenmusiker" gar nicht zutraut – und ein paar Schritte weiter steigt einer mit seiner Trompete in die Melodie ein. Wo eben noch alles in Bewegung war und Menschen ohne Ziel entlangeilten, ist plötzlich Stillstand: weil alle lauschen – und bald darauf applaudieren, während das Trio umzieht in die Innenstadt, um dort das Spiel wenig später zu wiederholen.

Der Wind sortiert die Töne

Der warme Sommerwind vom Mittelmeer sortiert unterdessen die Töne neu, je mehr Raum man ihm lässt, je weiter weg von der Bühne man horcht. Er trägt den Jazz von der Bühne in die Straßen, lässt Melodien und Noten vorm Casino und zwischen den Häuserzeilen mit Cafés und Boutiquen fallen, lässt Riffs und Akkorde aus den Pinien rieseln – und auf die Yachten der Zufallszuhörer ganz vorn auf dem Meer.

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Am Cap d'Antibes rieseln die Melodien aus den Pinien - und klettern rosa Elefanten in Richtung Baumkrone.

Das letzte Licht des Tages verschwindet als immer schmalerer Streifen an der anderen Seite der Bucht hinter den Bergen des Esterel-Gebirges, und entlang der Küste leuchten die Lichter der Hotels, der Appartementhäuser, der Villen, die Scheinwerfer der Autos auf den Straßen, die Lichterketten der Boote auf dem Wasser. Jemand scheint währenddessen bei immer noch immer 25 Grad einen Vorhang aus Dunkelheit vor die Bilderbuchlandschaft gezogen zu haben, das Meer ist für die nächsten paar Stunden schwarz gefärbt.

Melodien pflücken

Auch im Halbrund der Tribünen wurden die Scheinwerfer angeknipst – und auf die Mitte der Bühne gerichtet. Und doch weiß keiner, wo einer wie Richard Bona die Töne herholt, niemand sieht, wo am Sternenhimmel er die Melodie pflückt, die da plötzlich ist – und die anschließend nicht mehr aus dem Kopf geht. Der kamerunische Musiker lächelt. Er zwinkert mit den Augen, er singt. Und als geschehe es ganz nebenbei, zupft er auch noch an den Saiten seiner Bassgitarre. Was dann geschieht? Die Zuhörer johlen und applaudieren, doch von der Seeseite her lässt einer, der gar nichts gesehen haben kann, sondern nur aus der Ferne lauschte, sein Schiffshorn Beifall zollen.

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Wenn auf dem Esterel-Gebirge hinter Antibes noch Schnee liegt, sind oft nur noch wenige der 1500 Plätze beim Jazzfestival im Juli zu ergattern.
Foto: CRT Riviera Côte d'Azur / Anaïs BROCHIERO

Es röhrt durch die Nacht an der Küste, ein zweites Horn fällt ein, dann ein drittes. Bis Richard Bona wieder ans Mikrofon tritt – bis er sich in Richtung Publikum verbeugt. Und bis er einmal kurz hinter die Bühne geht, um von dort aus, den Bass noch in der Hand, in Richtung der Zaungäste auf ihren Yachten zu winken. Diese kleine Reverenz an die Côte, die für viele eine einzige große Bühne ist, muss schon sein. (Helge Sobik, DER STANDARD, 11.04.2015)