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Kleine Fehler, große Wirkung: Ein schnöder Tippfehler bei einem Aktiendeal, "Fat Finger" genannt, ließ so manche Börse ächzen. Ein banaler Softwarefehler summiert sich schnell zu Milliarden Verlusten.

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Einen großen Fehler leistete sich Daimler-Chef Jürgen Schrempp (rechts neben Thomas Klestil), als er 1998 Mercedes mit Chrysler fusionierte. Daimler versenkte mit der "Hochzeit im Himmel" 40 Milliarden Euro.

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Ein Schülerfehler vernichtete 1999 den Mars Climate Orbiter und 125 Millionen US-Doller. Die Wissenschafter hatten falsch vom amerikanischen ins metrische Maßsystem umgerechnet.

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Ein kleiner Fehler besiegelte in Sarajevo am 28. Juni 1914 das Schicksal von Erzherzog Franz Ferdinand. Der Fahrer bog falsch ab, musste reversieren. Gavrilo Princip war zufällig dort - und schoss.

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Sechs Verlagsmanager lehnten J. K. Rowlings "Harry Potter"-Manuskript ab. Einer griff zu - mit bekanntem Ergebnis: ein Weltbestseller.

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1981 stellte Adam Osborne den ersten Laptop vor. Bei der Präsentation kündigte er verbesserte Modelle an - die es aber nicht gab. Die Kunden warteten ab, der Tüftler blieb auf dem ersten Modell sitzen und ging pleite. Nennt man heute den Osborne-Effekt.

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Kein Fehler, eher ein Irrtum war der Restaurierungsversuch einer 80-Jährigen Spanierin, die sich 2012 an einem Christusbild versuchte.

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Der deutsche Ex-Bundespräsident Christian Wulff stolperte über eine Affäre und viele kleine Fehler.

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Toller Kicker, historische Fehlleistung: 1999 verschoss der Argentinier Martin Palermo in einem Spiel drei Strafstöße.

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Haben Sie heute schon brav Überstunden gemacht, sind dann noch einen Sprung ins Fitnessstudio - verschwitztes Selfie inklusive -, um dann noch schnell im Supermarkt für das Drei-Gänge-Menü einzukaufen? Die Wohnung haben Sie natürlich noch vor der Arbeit (#riseandshine) picobello aufgeräumt. Klingt nach einem anstrengenden Tag, aber da ist noch Luft nach oben! Immerhin ist Ihr Nachbar jeden Morgen schon vor Ihnen wach, die neue Kollegin bekommt viel mehr Lob, und mit Ihrer Ernährung sind Sie auch nicht 100 Prozent zufrieden - vielleicht sollten Sie doch diese Paleo-Diät ausprobieren, von der im Fitnessstudio immer geredet wird? Die To-do-Liste soll ja niemals leer sein. Mittelmaß ist was für andere - für Sie gibt es nur 110 Prozent - nicht nur in der Arbeit, sondern überall.

Für viele mag diese Beschreibung übertrieben klingen, die Wahrscheinlichkeit aber, dass sich jemand im Freundes- oder Bekanntenkreis ähnlich verhält, ist groß, denn es regiert die Fehlerlosigkeit - und zwar in allen Bereichen. Das hat unter anderem der deutsche Soziologe Heinz Bude beschrieben. Die 35- bis 40-Jährigen bezeichnet er als die "Generation null Fehler", die sämtliche Bereiche auszutarieren versucht. Nur wenn man alle wichtigen Lebensbereiche - Job, Partnerschaft, Familie - souverän meistert, sieht man sich als erfolgreich.

Risiko würden die Vierzigjährigen von heute nicht kennen, Angst sei die zentrale gesellschaftliche Kraft. Der vielsagende Titel seines Buches lautet deshalb auch Gesellschaft der Angst. Das Leben sei für die Vierzigjährigen von heute kein Bestehen von Bewährungen, keine Bewältigung des Absurden, sondern das durchgängige Bezugsproblem für eine Nullfehlerexistenz. Niemand wolle sich vorwerfen, dass ihm etwas entgangen sei, schreibt Bude in der Zeit. In Alternativen zu denken, sich immer Szenarien möglicher Entwicklungen vor Augen zu halten gilt für diese Generation auch in der Liebe und im Leben ganz allgemein. Von "Ich bin, der ich bin" verschiebt sich das Empfinden vieler zu "Ich bin, der ich sein könnte".

Wenn Perfektion zu viel wird

Steigenden Optimierungsdruck bemerkt auch der Wiener Psychiater Raphael Bonelli in seiner Praxis. Obwohl es nur wenige Studien gebe, traue er sich eine Hypothese zu: "Die Angst vor Fehlern ist in der heutigen Gesellschaft enorm." Bonelli nahm seine Beobachtungen als Anlass,, ein Buch über Perfektionismus zu schreiben. Viele psychische Probleme - vor allem Burnouts, Depressionen oder Essstörungen - weisen einen hohen Zusammenhang mit perfektionistischem Verhalten auf. Die Angst kenne dabei keine Altersgrenze - Jugendliche wie Pensionisten besuchen Bonelli mit unterschiedlichen Anliegen. Perfektionismus sei aber eine denkbar falsche Reaktion auf die Angst vor Fehlern, denn die Menschen stehen sich durch ihr krankhaftes Verhalten, alles unbedingt richtig machen zu wollen, selbst im Weg. "Das Bessere ist des Guten Feind", das wusste bereits Voltaire.

Perfektionismus als Krankheit der Gesellschaft zu verteufeln wäre aber falsch, denn "Perfektion ist ja etwas ganz Normales, das wir in vielen Bereichen auch einfordern müssen - man denke nur an Ärzte oder Piloten. Wenn man aber nicht akzeptieren kann, dass das Soll einmal nicht erreicht wurde, läuft das in die falsche Richtung", sagt Bonelli.

Krankhafter Perfektionismus

Was aber sind die Gründe dafür, dass viele Menschen - ob jung oder alt - Fehler und Schwächen vermeiden wollen? Christine Altstötter-Gleich ist eine der wenigen Perfektionismus-Forscherinnen im deutschsprachigen Raum. Die Psychologin beschäftigt sich mit unterschiedlichsten Fragen rund um das Phänomen, konzentriert sich aber vor allem darauf, welche Faktoren Perfektionismus zu einer Krankheit werden lassen, denn auch sie betont: An Perfektionismus kann man, muss man aber nicht erkranken.

"Ich denke, dass die Ansprüche in vielen Lebensbereichen sehr hoch sind. Die Gefahr zu scheitern ist viel höher als früher." Bele- ge gebe es genug. In Deutschland könne man dies etwa daran erkennen, dass es keine Hauptschulen mehr gibt: "Junge Menschen werden beinahe zum Abitur gezwungen - dabei wird aber vergessen, dass man damit nicht allen einen Gefallen tut." Nur mit außergewöhnlichen Leistungen habe man Anspruch auf Erfolg, ein Punkt, den auch Bonelli in der Ursachensuche betont: "Arbeit wird überschätzt. Sie nimmt alle Bereiche ein, wo dann auch einzig Leistung als Maxime gilt, man vergleicht sich ständig."

Getriebene der Zeit

Ständige Selbstoptimierung ist der neue Mainstream. Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier schrieb dieses Jahr mit Verleitung zur Unruhe ein Manifest gegen eine Gesellschaft, die er von außengeleiteten, Ich-schwachen Moralisten dominiert sieht. Das Glück könne laut diesen Getriebenen der Zeit nur derjenige finden, der ständig an sich selbst arbeitet. Arbeit und Genuss seien die beiden Gewichte, die die Menschen nach unten ziehen.

Freizeit sieht der Soziologe zu einem nützlichen Anhängsel der Arbeit herabgewürdigt, denn Arbeit ist das ganze Leben: Beziehungsarbeit, Motivationsarbeit, Emotionsarbeit, Familienarbeit und so weiter - für Heinzlmaier ein Graus. Das Leben als Planungsaufgabe, der Hauptstressfaktor der Zeit.

Werden andere Lebensbereiche nach der Vorlage der Arbeit quantifiziert, wird das Verfehlen von Vorgenommenem zum Scheitern. Was aber ist mit den Fehlern gemeint, die viele Leute nicht mehr auszuhalten imstande sind? "Alles, was nicht die eigenen Erwartungen erfüllt", sagt Bonelli.

Fehlerkultur - ja, aber ...

Was ein Fehler ist, wird von jedem und jeder selbst entschieden, mit der Zeit ergeben sich hier auch neue Anforderungen - und damit auch Unsicherheiten. Gerade bei Müttern lässt sich das erkennen: Neben der Anforderung, eine gute Mutter zu sein, gilt für viele Frauen seit einigen Jahren auch die Anforderung, Karriere zu machen beziehungsweise so früh wie möglich zurück im Job zu sein. "Für viele Mütter ist das die Quadratur des Kreises", sagt Bonelli.

Was also tun, wenn die Vermeidung von Fehlern ein gesellschaftliches Phänomen ist? Die Management-Literatur antwortet bereits seit Jahren mit dem wolkigen Begriff "Fehlerkultur". In Unternehmen müsste den Mitarbeitern wieder in Erinnerung gerufen werden, dass Scheitern auch als Chance gesehen werden kann. Im deutschsprachigen Raum bleibt es bislang beim Ruf nach einem Mehr an Fehlerkultur, die US-Amerikaner halten derweil schon ganze Scheiter-Konferenzen ab. Dort treten vor allem Start-up-Gründer auf die Bühne und erzählen, mit welchen Ideen sie erfolglos blieben, vielleicht sogar viel Geld verloren, bis der Durchbruch kam. Auf diesen "failure conferences" ist Scheitern chic, denn in der Show dominiert schlussendlich doch immer der Erfolg.

Umgang mit Fehlern

In den Vereinigten Staaten ist die Toleranz für Fehler generell hoch. In einer Untersuchung über den unterschiedlichen Umgang mit Fehlern in verschiedenen Kulturen sind Singapur und Deutschland die Schlusslichter. Für den südostasiatischen Stadtstaat sei das größte Hindernis der hohe Nationalstolz - Fehler werden gar nicht erst zugegeben.

Auch in Berufssparten wird mit Fehlern unterschiedlich umgegangen: Die Literatur ist voll von Vergleichen zwischen Luftfahrt und Medizin, denn während sich die Sicherheit im Flugverkehr während der letzten 45 Jahre stark verbessert hat, sind Ärztefehler noch immer häufig.

Fehlerhafte Kommunikation

Als Hauptprobleme gelten steile Hierarchien und mangelnde Kommunikation in den Krankenhäusern. Ein deutscher Kommunikationswissenschafter mit Pilotenschein wollte die Unterschiede genauer untersuchen und entwickelte eine Sicherheitsschulung für Ärzte, inklusive Training im Flugsimulator. Von den Piloten lernten die teilnehmenden Ärzte, dass in der Luftfahrt für die Kommunikation klare Regeln gelten: Wenn Anweisungen vom Tower kommen, muss das der Pilot wiederholen.

Ein komplizierteres Problem sind die steilen Hierarchien in der Medizin: Im Flugzeug müssen sich Copilot und Flugbegleiter einmischen, wenn der Pilot einen Fehler macht - im OP-Saal sehen Ärzte Hinweise von Assistenzärzten oder Pflegern oft als Affront.

Online währen Fehler ewig

Während es in vielen Berufen klare Regeln gibt, um Fehler zu vermeiden, und Menschen auch danach ausgesucht werden, ob sie mit dem hohen Druck, dass Fehler Leben kosten, umgehen können, bestimmt im Internet die Netzgemeinde die Regeln. Der US-Autor Jon Ronson hat sich für ein neues Buchprojekt intensiv mit dem sogenannten "Social Media Shaming" befasst.

Er sprach dafür mit mehreren Personen, für die ein unbedachter Tweet oder ein Schnappschuss gravierende Konsequenzen hatte. Die meisten verloren ihre Jobs, kämpfen mit Depressionen und haben Freunde verloren.

Das prominenteste Beispiel ist Justine Sacco: Im Dezember 2013 reist sie von New York nach Südafrika und schickt vor Abflug einen verhängnisvollen Tweet: "Fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein Aids. Nur ein Scherz, ich bin ja weiß!" Nach der Landung, elf Stunden später, versteht sie die Welt nicht mehr. Ihr Tweet war der weltweit stärkste Twitter-Trend, den Job war sie bereits los, die eigene Familie von ihr schockiert.

Das Internet vergisst nichts

Online funktioniert aber auch das andere Extrem: Die Möglichkeiten, sich perfekt zu präsentieren, sind endlos. "Jugendliche wollen authentisch wirken - es bleibt aber bei einer gespielten Authentizität", sagt Bente Knoll, eine der Autorinnen der Studie "Ich im Netz".

Das eigene Handeln wird von Jugendlichen bewusst danach ausgelegt, dass das Internet nicht vergisst. Die für die Studienautoren größte Überraschung war aber, dass es in der Selbstdarstellung starke Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. "Die Geschlechterstereotype werden auf Facebook wieder verstärkt." Was Knoll damit anspricht: Burschen dürfen viel weniger Emotionen zeigen als Mädchen. "Das Internet kennt deprimierte Burschen nicht", sagte etwa ein 15-jähriger Teilnehmer in der Studie. Gleichaltrige sanktionieren Traurigkeit bei Burschen als Fehler, Mädchen dürfen mehr Emotionen zeigen. Für beide Geschlechter gilt, dass körperliche Attraktivität das wichtigste Bewertungsmerkmal ist.

Alles auf Rückzug

Was der Online-Auftritt mit den Jugendlichen im realen Leben macht, wurde in der Studie nicht untersucht. Dass sich die ständige Onlinepräsenz natürlich in den Handlungen auswirkt, steht aber fest.

Jugendforscher Heinzlmaier verortet einen coolen Pragmatismus, nüchtern kalkulierend schreiten die jungen Menschen durch die Welt. Fehlerkultur ist für sie ein Unwort - bevor sie Fehler machen, tun sie lieber gar nichts.

Das Glück aber liege in Strategien des Rückzugs, Distanz und vielen persönlichen Hinterzimmern. Wir sollen uns endlich viel weniger um uns selbst kümmern, schreibt er und erinnert an Nietzsche: "Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht." (Lara Hagen, DER STANDARD, 11.4.2015)