Der Schriftsteller Frederic Morton ist 90-jährig gestorben.

Foto: Robert Newald

Wien, Hernals, Thelemangasse 4: Es war diese erste Adresse in seinem Leben, auf die Frederic Morton immer wieder zurückkam. Der Schriftsteller umkreiste sie in einem Roman und in Kurzgeschichten. Der spät gefeierte Besucher sah sie wieder, als er ein Ehrenzeichen der Stadt und das Haus eine ihm gewidmete Tafel bekam. Der Erwachsene suchte seine Kindheit, die Gefühle, die Sprache, die unwiederbringlichen ersten 14 Jahre seines Lebens.

Als Fritz Mandelbaum kam er 1924 hier auf die Welt, Sohn eines Eisenwarenfabrikanten, ein passabler Schüler und ein sehr guter Sportler. Seine wohl heile Welt brach mit dem Anschluss Österreichs zusammen, die jüdische Familie Mandelbaum, egal wie assimiliert sie war, musste Wien verlassen und gelangte über London nach New York.

Was folgte, ist eine der erstaunlichen Biografien, in denen Menschen in einer völlig anderen Umgebung, einer anderen Sprache bei null beginnen müssen, sich erfolgreich neu definieren – und doch den alten Wurzeln verbunden bleiben, auch wenn sie allen Grund hätten, sie zu vergessen.

Von Mandelbaum zu Morton

Fritz war so ein Fall. New York verlangte Anpassung von der Familie, die vor dem Nichts stand. Aus den Mandelbaums wurden die weniger auffälligen Mortons. Der Sohn machte eine Bäckerlehre, denn irgendwo musste ja das Geld herkommen. Sein Englisch aber war bald so gut, dass er Literatur, seine Passion, nicht nur konsumieren, sondern auch an der Uni studieren – und produzieren konnte. Mit 23 veröffentlichte er sein erstes Buch, "The Haunt", und bekam sogar einen Literaturpreis dafür.

Als Korrespondent bereiste er für amerikanische Magazine Europa, sah auch Wien wieder. Doch damals beschränkte sich sein Bezug zur Heimatstadt eher darauf, dass er alte Gewohnheiten pflegte wie ein gewissenhafter Kurator. Bis ins hohe Alter, erzählte er einmal, begrüßte er seine Eltern mit: "Küss die Hand, Mama, küss die Hand, Papa!" Die Themen seiner Geschichte und Reportagen kreisten um die weite Welt, um Reisen, um Essen und Trinken – das verband ihn auch mit seiner Frau Marcia, die er im College kennengelernt hatte; gemeinsam verfassten sie kulinarische Werke.

Zudem engagierte er sich als liberaler, laut Eigendefinition "widerwilliger Atheist" in Kolumnen der New Yorker Stadtzeitung "Village Voice", in denen er über die Politik Israels ebenso räsonierte wie über seine Psychoanalyse oder die Rastlosigkeit des amerikanischen Lebens – Letzterem widmete er später eine Erzählung, "Crosstown Sabbath", in der er der ruhigeren Zeiten in der Fabrik seiner Vorväter gedachte.

Wanderer zwischen zwei Welten

International erfolgreich war Fred Morton mit der Familiensaga "The Rothschilds" (1962), die gleich ins Deutsche und in mehr als 20 weitere Sprachen übersetzt und bald auch zum Musical wurde. Elie de Rothschild bot ihm in Paris den Wein an, den Fritz in Wien "nicht genießen hatte können" – im Palais Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße wurden Juden vor ihrer Vertreibung registriert. Vielleicht war es ein kleiner Wink, jedenfalls widmete sich der Autor in seinen späteren Werken verstärkt mitteleuropäischen, Wiener, sogar Hernalser Themen. "A Nervous Splendour" (1979; deutsch: "Ein letzter Walzer") beschreibt die Mayerling-Affäre, "The Forever Street" (1984; deutsch: "Ewigkeitsgasse") die Geschichte seiner Familie. "Thunder at Twilight" (1989; deutsch: "Wetterleuchten") war ein besonders ambitioniertes Porträt von Wien vor dem Ersten Weltkrieg.

Morton war kein Historiker, aber ein genauer Nachforscher und brillanter Stilist, der es verstand, Geschichtsdaten mit Persönlichem und Atmosphärischen zu vereinen – manchmal "biographie romancée", manchmal "literary journalism".

In den letzten Jahrzehnten weilte er häufiger in Wien, aus beruflichen und immer mehr auch aus privaten Gründen. Als Wanderer zwischen zwei Welten bezeichnete er sich, sportlich blieb er fast bis zum Schluss, joggend im Riverside Park ebenso wie im Stadtpark. Er schrieb auf Englisch, stolz war er weniger auf sein Deutsch als vor allem auf sein Hernalserisch.

Dieser Tage hätte in seiner Anwesenheit eine Feier stattfinden sollen – in der Thelemangasse.

Am Montag ist Frederic Morton im 91. Lebensjahr in Wien gestorben. (Michael Freund, DER STANDARD, 20.4.2015)