Frühling im Allerheiligenpark im 20. Bezirk, Vogelzwitschern und Radbremsenquietschen sind die Geräuschkulisse an diesem Donnerstag zur Mittagszeit. Zwei Neunjährige führen zur Feier des überstandenen Schultags ihre Mountainbikes zum Schleuderbremstest aus. Ein mächtiges Gebäude schaut ihnen zu. Im Inneren dieses Hauses sind ebenfalls Neunjährige ins Spiel vertieft, doch sie haben den halben Schultag noch vor sich, und das Spiel, das sie auf Trab hält, heißt Mathematikstunde.

"Wo ist die Einer-Kiste?", fragt die Lehrerin, sie heißt "die Christa". "Da!", rufen die Kinder fast im Chor, und schon stehen sie dort, wo Christiana Pock-Rosei zuvor einen Holzwürfel, so groß wie ein Kinderdaumennagel, platziert hat. Wer Frontalunterricht gewohnt ist, verliert hier schnell den Überblick. Unterrichtet wird nicht im Klassenzimmer, sondern auf dem Gang.

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Die Lehrerin verteilt Gegenstände diverser Größen auf dem Boden und lässt raten: Welches Ding steht für welche Zahl? "Ich liebe dieses Spiel!", kreischt eine Achtjährige, Tonhöhe dreigestrichenes E aufwärts, und stürzt auf den Hunderttausender-Deckel zu. Der größte Holzwürfel, die Million, ist so groß, dass vier Kinder darin sitzen können. Und das tun sie auch: Nacheinander schlüpfen sie in die mit Rollen versehene Kiste. Deckel drauf, ab die Fahrt, gangauf, gangab – nicht ohne zuvor ein Alarmsignal zu vereinbaren: "Wenn dir heiß ist, es dir zu eng wird oder dich sonst irgendwie unwohl fühlst, dann klopfst du, gut?", fragt die Lehrerin und verdeutlicht dieses Unwohlsein, indem sie das Gesicht verzieht und sich am ganzen Körper schüttelt. Die Kinder nicken, Vereinbarung akzeptiert, das Spiel geht los.

Nur einer teilt die Begeisterung nicht. "Ich will nicht in die Kiste", sagt Kabir. "Ich weiß", sagt die Lehrerin. Der Bub sucht sich sein eigenes Spiel: ein Brett mit Kugeln, das nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit erhält.

Fahrt mit der Millionen-Kiste.
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Alltag in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau: Hier ist man stolz, auf jedes Kind einzugehen, alle Bedürfnisse zu berücksichtigen – und die sind höchst unterschiedlich. 27 Prozent der Kinder haben sogenannten sonderpädagogischen Förderbedarf. In jeder Klasse gibt es drei Altersgruppen. Sechsjährige kommen hier nicht in die erste Klasse, sondern in die "Eingangsgruppe", in der sie drei Jahre lang bleiben, wenn gewünscht auch vier, falls sie das Ziel, am Ende der drei Jahre Rechnen, Lesen und Schreiben zu können, nicht erreicht haben. Viele Muttersprachen sind vertreten, unterrichtet wird nach reformpädagogischen Leitlinien.

Lehrer heißen hier "Lernbegleiter" und sind entweder Volksschullehrer, Sonderpädagogen, Freizeitbetreuer oder Hauptschullehrer. Dass Schüler anderer Schulen zu Hause noch über Hefte gebeugt Formeln lösen und Aufsätze schreiben, kostet Integrationslehrer Matthias Schott ein Lächeln: "Hausübungen? Reine Beschäftigungstherapie für die Eltern."

Probiert Konzepte wie Ganztags- und Gesamtschule als Schulversuch aus: Schulleiter Josef Reichmayr.
Foto: STANDARD/Cremer

Wer bildungspolitische Schlagwörter wie Gesamtschule, Ganztagsunterricht, Schulautonomie und Inklusion nicht mehr hören kann, sieht sie hier mit Leben erfüllt. Schüler bleiben bis halb vier Uhr nachmittags da, manche auch länger, dafür beginnt der Unterricht erst um 8.30 Uhr. Vieles wird neu ausprobiert – und wie üblich bei Experimenten, geht es auch manchmal schief, zumal die Schule nicht mehr Personal als andere Inklusionsschulen bekommt.

"Die Lehrer haben ein enormes Arbeitspensum, darunter leiden auch die Kinder", erzählt Monika Reichwald*, Mutter der 13-jährigen Sara, die nun in eine andere Schule geht, weil sie in der ILB Probleme hatte. Zwar lernte sie dort, was sonst keine Schule lehrt – "einen natürlichen Umgang mit Behinderungen", wie Reichwald sagt. Doch in Englisch haperte es.

Dass den Lehrern hier viel abverlangt wird, ist auch Direktor Josef Reichmayr bewusst: Der Essay einer ILB-Lehrerin, die über "zu viele Bedürfnisse, zu viele Schulstufen, zu viel Lärm, zu viele Schwierigkeiten, zu viel Druck, zu viele Erwartungen" klagt, wurde sogar in der Jubiläumszeitung der Schule abgedruckt. Der Text trägt den Titel "Ich mag die ILB … nicht immer" – und endet mit der versöhnlichen Feststellung, wie befriedigend es sei zu sehen, dass anderswo als "behindert" abgeschriebene Kinder hier aufblühen können.

Wer lieber Rätsel löst als mit Kisten rollt, tut das einfach.
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Auch Eltern arbeiten hier mehr mit als anderswo. Sie dürfen nicht nur mitbestimmen, es wird auch erwartet: wohin der Ausflug geht, wann die Kinder ihr Smartphone einschalten dürfen, welches Essen zu Mittag aufgetischt wird. Sie wissen zwar alles über Schulstatistik und Pädagogikkonzept, doch nichts über die Noten ihrer Kinder – es gibt nämlich keine, zumindest keine Ziffernnoten. Manche Eltern stört das – zumal sie in der achten Klasse oder beim Wechsel des Kindes in eine andere Schule zum ersten Mal ein klassisches Zeugnis in Händen halten. "Für manche ist das ein Aha-Erlebnis, die sagen dann: 'Das hätten wir aber gern früher gewusst, dass das Kind da nicht so gut ist'", erzählt Direktor Reichmayr. "Auch wenn wir ihnen immer versuchen das verbal zu vermitteln – Ziffernnoten sind halt scheinbar eindeutig." Pädagogisch, so Reichmayr, seien sie aber "kontraproduktiv".

Lange Warteliste

Die allermeisten Eltern dürften aber zufrieden sein. Zumindest verrät das die Anmeldestatistik: Die Warteliste für die ILB ist lang, seit einigen Jahren nimmt die Schule nur noch Kinder aus dem Bezirk auf – mit Ausnahme von Geschwisterkindern. Oft wurde die Schule gelobt, ausgezeichnet, fast jede Woche klopft ein Fernsehteam, eine ausländische Delegation an, um sich ein Bild zu machen. Doch auch die ILB ist kein gallisches Dorf im Schulsystem: Dass es für den gesamten Bezirk nur eine Schulsozialarbeiterin gibt, dass die Schulärztin viel mehr zu tun hat, als ihr Stundenbudget erlaubt, dass die Schulleitung wegen jeder Mini-Anschaffung bürokratische Gipfel erklimmen muss – diese Alltagsmühen teilt die ILB mit jeder "normalen" Schule im Bezirk.

Die 13-jährige Sara geht seit mehr als einem Jahr in eine andere Schule. In Englisch hat sie mit viel Nachhilfe den Anschluss an die Gleichaltrigen geschafft. Sie sieht aber auch deren Defizite. "Im Zeichenunterricht fragen sie nach jedem Strich, wie es weitergeht", sagt sie. "Auf die Idee, dass sie selbst entscheiden können, kommen sie gar nicht." (Maria Sterkl, derStandard.at, 21.4.2015)