Als der Ruf "Eisbär auf elf Uhr" kommt, gibt es kein Halten mehr an der Tischen des Restaurants Le Rodrigues. Die Leute lassen die Salade Niçoise stehen, den gegrillten Heilbutt, ja sogar die Île Flotante, die vom Desserttresen immer zuerst verputzt wird. Das Mittagsbuffet, an Bord der L'Austral so wichtig wie in Paris der Bistro-Besuch, tritt zurück vor dem größten aller Ereignisse, dem Erscheinen des Königs der Arktis.

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Die L´Austral in der sonst menschenleeren Arktis.

José Sarica, einer von zehn wissenschaftlichen Guides an Bord des französischen Kreuzfahrtschiffs, scheint seine Tage mit dem Fernglas auf der Kommandobrücke zu verbringen. Kein Wal, keine Robbe und natürlich kein Eisbär entgehen dem Tierfanatiker aus Montreal in den drei Wochen, die die L'Austral unterwegs ist, um dem Mythos aller Schiffsreisen schlechthin zu folgen: der Nordwestpassage. Auf der knapp achttausend Kilometer langen Reiseroute zwischen Grönland und Sibirien begegnet man Eisbären allerdings häufiger als den Inuit, den einzigen Siedlern der ansonsten menschenleeren Arktis.

Ruhm winkte

Die Nordwestpassage gewinnt ihre Faszination bis heute aus dem Spannungsfeld zwischen Scheitern und Meistern. Niemanden, der sich mit ihrer Geschichte beschäftigt, lässt sie unberührt. Es waren Jahrhunderte, in denen europäische Abenteurer und Entdecker zuerst entschlossen, später verzweifelt versuchten, einen Seeweg nach Asien oberhalb Amerikas zu finden, immer wieder, immer erfolglos. Zu verlockend war die Aussicht, die Handelsroute, die bisher um Afrika herumführte, deutlich zu verkürzen, Kosten zu senken, Gewinne zu mehren. Königshäuser lobten Prämien aus, Ruhm winkte.

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Die Bären freuen sich über das viele Treibeis in der Nordwestpassage. Dann kommen sie besser voran. Schiffskapitäne dagegen hoffen auf eine eisfreie Fahrt.

Doch erst Roald Amundsen, der hartgesottene Südpolbezwinger, schaffte es 1906. Drei Jahre brauchte er dafür, zweimal harrte er mit dem Fischkutter Gjøa und seinen sechs Leuten im arktischen Winter Kanadas aus, bevor er endlich durchkam. Die Anstrengungen, nördlich von Russland eine Nordostpassage zu finden, sahen übrigens ganz ähnlich aus.

Die Natur ist die große Unbekannte

Eigentlich scheint es ganz einfach. Man muss nur an der Westküste Grönlands nach Norden segeln, in der Baffin Bay nach Westen in den Lancaster Sound abbiegen, gerade durch den Parry Channel fahren, breit wie eine maritime Rennbahn. Schon ist man an Kanada vorbei. Dann durch die Beaufortsee, Alaska links liegen lassen und nach Süden in die Beringstraße.

Das war's. Gut, eine ordentliche Strecke ist es schon, so um die dreieinhalbtausend Seemeilen. Man ist eine Zeit lang unterwegs. Aber sonst? Ein Zoom auf Google Earth genügt, und es ist klar, wo es langgeht. In der Theorie. Denn - das zeigt sich bis heute - immer noch ist die Natur die große Unbekannte. Wetter, Strömungen und vor allem der unberechenbare Eisgang im Nordpolarmeer sorgen fast täglich für Überraschungen, trotz Satellitenanalysen vom Feinsten.

Malbücher vom Eispiloten

L'Australs Eispilot Etienne Garcia ist bald der Star der Besatzung. Die Charts, die er jeden Abend beim Briefing präsentiert, sehen aus wie Malbücher für Kinder. Im Routenabschnitt durch Bellot und Victoria Strait ist die See aufgeteilt in knallbunte Sektoren. Sie zeigen Dicke, Qualität und Ausdehnung des Treibeises, ein Vexierbild sich ständig ändernder Gefahren, denen das Schiff tunlichst auszuweichen hat. Geradeaus durch den Parry Channel, sagt Garcia, könne man vergessen, der sei fast immer ganzjährig vom Treibeis blockiert, das zeigten die Analysen, über die man hier auch erst seit zwanzig Jahren verfüge.

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Eis in der Beringstraße

Der Trick seien die schmalen Nebenstraßen. Die sahen die ersten Entdecker nicht einmal, obwohl sie genau davor ankerten. Sie hielten die Bellot Strait für eine Sackgasse. Erst wer ihren Spuren folgt, kann ermessen, dass davon alles abhing. Statt rechts abzubiegen segelten sie damals weiter nach Süden, nur um Monate später in der Hudson Bay und wieder im Atlantik zu landen, von wo aus sie aufgebrochen waren. Welch eine Frustration! Noch heute ist Nunavut, erst seit 1999 anerkanntes Territorium der kanadischen Inuit, durch das die Nordwestpassage führt, ein Irrgarten konturenloser Wasserwege und Inseln ohne erkennbare Landmarken.

Sie fräst sich durch meterdickes Packeis

Eines Abends auf den gut gefüllten Außendecks: Feldstecher suchen den Horizont ab. Kapitän Patrick Marchesseau kündigt die Ankunft eines Eisbrechers an, das erste Schiff seit einer Woche Seereise. Bullig fräst sich die feuerrote Pierre Radisson durch meterdickes Packeis, um die L' Austral und ein ebenfalls wartendes Versorgungsschiff durch Bellot, Franklin und Victoria Strait zu führen. So kommt es an diesem Augusttag 2014 zu einem denkwürdigen Treffen, dessen Bedeutung kaum jemand ermisst.

Zwei Tage lang folgen die L'Austral und der Frachter der Spur des Eisbrechers. Der Konvoi ist der einzige Seeverkehr zu dieser Zeit in diesem Teil des Arktischen Ozeans - drei winzige GPS-Punkte auf dem Satellitenbild, im Gänsemarsch unterwegs auf einer Fläche, so groß wie das Mittelmeer. Die Einsamkeit auf der Nordwestpassage ist manchmal nur schwer zu begreifen.

Tot oder auf der Flucht

Während die Passagiere ihr Vier-Gänge-Dinner genießen, geht es genau an dem Ort vorbei, an dem 1848 die größte Nordwestpassagen-Expedition ihr tragisches Ende fand: Die beiden Schiffe des Engländers John Franklin vom Packeis zerquetscht, er selbst tot, der Rest der Mannschaft auf der Flucht vor Kälte und Hunger Richtung Süden einfach verschwunden - über hundert Mann, für immer, bis heute rätselhaft.

Die Motoryacht und das Treibeis
Foto: Sven Weniger

Da wirkt es wie eine Laune des Schicksals, dass in dem Moment, als die L'Austral King William Island passiert, sich dort eine Sensation ereignet. Nach acht Jahren Suche findet eine kanadische Expedition die HMS Erebus, eines der beiden gesunkenen Franklin-Schiffe, auf dem Meeresgrund. Den Historikern des Kreuzfahrtschiffs stehen Tränen in den Augen.

Die See ist das Tor zur Welt

Wann immer die L'Austral vor Inuit-Siedlungen Anker wirft, ist die Aufregung groß; im kanadischen Ulukhaktok der Northwest Territories, auf Diomede Island, einer winzigen Insel an der Datumsgrenze der Beringstraße. Vor allem aber im grönländischen Kullorsuaq gleich zu Beginn. Ein Schiff kommt! Viele Bewohner warten am Ufer. Zodiacs fahren hin und her. Bald ist die Motoryacht halb leer und die Siedlung voll. Zweihundert Passagiere in den roten Polarjacken der L'Austral treffen auf zweihundert grönländische Inuit, viele in Trachten aus mit Perlen besticktem Seehundfell. Zwei Outfits aus zwei Welten, wie sie verschiedener kaum sein können. Und beide sind neugierig aufeinander.

Bestenfalls zweimal im Jahr kommt ein Versorgungsschiff nach Kullorsuaq. Wer weg will, muss den Helikopter nehmen, und das ist teuer. Die See ist das Tor zur Welt hinter den Gletschern, und das auch nur in den vier eisfreien Sommermonaten. Zwei Drittel des Jahres kommt nichts vom Meer außer den Fischen und Seehunden, die die Leute fangen und essen, und gelegentlich ein Wal, aber das ist selten. Man muss das wissen, um zu erahnen, was es hier bedeutet, wenn zwei Hundertschaften Mitteleuropäer an Land gehen.

Neuer Transportweg

Natürlich ist der Klimawandel ein Thema an Bord. Öl- und Gasindustrie wollen den Meeresboden anzapfen. Die Handelsschifffahrt zieht schon vorausblickend kühne Linien mitten durch den Nordpol, falls dieser in ein paar Jahrzehnten eisfrei sein sollte. Durch die saisonale Nutzung der Nordwest- wie auch der Nordostpassage im Norden Russlands könnten Transportwege zwischen den Kontinenten drastisch verkürzt werden. Ein paar Dutzend Schiffe sind es schon jedes Jahr, ihre Zahl steigt. Was passiert bei einer Havarie? Etienne Garcia, der erfahrene Eispilot der Nordwestpassage, ist überraschend skeptisch.

Erst wenn die L'Austral das Eiland Little Diomede (im Bild) in der Beringstraße erreicht hat, gilt die Nordwestpassage als durchfahren.
Foto: Sven Weniger

Jedes Jahr sei anders, das Meereis der Arktis ändere Form und Ausdehnung unberechenbar. Supertanker bräuchten massive Eisbrecherbegleitung. Die sei zwar in kanadischen Gewässern umsonst, in russischen aber teuer. Eine sichere Route wie die der nur 142 Meter langen L'Austral durch enge, flache Passagen wie die Bellot Strait seien für große Schiffe bei Eisgang ein hohes Risiko. Der Kreuzfahrttourismus dagegen scheint derzeit am ehesten geeignet, Aufmerksamkeit für das fragile Ökosystem der Arktis zu erzeugen.

Die Welt zu Besuch

Die Inuit jedenfalls freuen sich überall, wo die L'Austral anlegt, dass der Rest der Welt nun auch zu ihnen kommen wolle. Es gibt Momente, in denen für kurze Zeit eine große Nähe entsteht. Er habe schon Besucher aus Mexiko, China und England auf Little Diomede begrüßt, erzählt Robert Soolook, der Vorsteher der winzigen Gemeinde auf dem Eiland in der Beringstraße. Nun also auch Franzosen, Deutsche und Österreicher. Little Diomede sei darauf stolz.

Ein Dutzend der gerade mal fünfundachtzig Bewohner führt die Passagiere der Kreuzfahrtyacht durch die Siedlung. In der Schule gibt es eine Tanzvorführung. Dann verschwindet die Kreuzfahrtyacht wieder am Horizont, und zwei Stunden später stehen dutzende Fotos der Begegnung auf der Facebook-Seite von Little Diomede. Überall auf dem Globus sind sie zu sehen. (Sven Weniger, Rondo, DER STANDARD, 24.4.2015)