Emotionale Muster und Harmoniekonstruktionen, die vielfach bis heute mit einem Ideal von Österreich zu tun haben, hatten ihre deutlichste Ausprägung in den Heimatfilmen nach dem Krieg.

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Österreich ist das vermutlich einzige Land auf dieser Welt, das zweimal hintereinander im Abstand von nur zwanzig Jahren 1000 Jahre alt wurde, und zwar in jungen Jahren: Beim ersten Mal war Österreich offiziell gerade volljährig (1976), beim zweiten Mal im besten Alter (1996). Den Briefmarkensatz 1000 Jahre Österreich von 1976 (neun Wappen für die neun Bundesländer) halte ich bis heute in Ehren, schließlich war das mein erster Kontakt mit nationaler Identitätsbildung. Ich ging damals in eine Hauptschule in einem Ort, den die Römer Gabromagus nannten. Das war, von den tausend Jahren aus gesehen, also in der Vorgeschichte.

Was hat das Österreich von 1976 mit dem von 1996 gemein, und was haben die beiden wiederum mit dem von 976, 996, 1440, 1918, 1945, 1955 oder schließlich dem von 2015 gemein? Das sind Fragen, die tief in die Geheimnisse des staatlich organisierten Zusammenlebens führen. Offiziell ist die Sache einigermaßen klar: Es gibt eine Zweite Republik, die mit einem Staatsvertrag legitimiert wurde, und diese Republik steht in diversen Rechtsnachfolgen. Das Recht geht in dieser Republik von einem Volk aus, das viele höchst unterschiedliche Geschichten in das Gemeinwesen mitbringt.

Kühne Formeln vom "Wahren"

Beim Rückblick auf das Jahr 1945 werden viele dieser Geschichten noch sehr konkret sein. Sie zählen vielleicht zur Familienüberlieferung oder werden ausdrücklich beschwiegen - je nachdem. Je nach was? Offensichtlich lassen sich nicht alle Erinnerungen mit jener Eindeutigkeit in Einklang bringen, die in der Unabhängigkeitserklärung von 1945 zum Ausdruck kommt: dass "den sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg", der gerade zu Ende ging, "kein Österreicher jemals gewollt hat". Und dass, jetzt wird es noch feierlicher, "kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses" gegen die angegriffenen Völker gehegt hat. Natürlich sind diese Sätze taktisch, sie stehen unter dem Vorbehalt, dass sie eine Unabhängigkeit herbeiführen sollten, die von der Geschichte erst einzulösen war.

Aber es ist doch bemerkenswert, wie kühn hier die Formel von einem "wahren Österreich" beschworen wird, als ginge es gar nicht so sehr darum, dass alle tatsächlichen Österreicher sich darin wiedererkennen können, sondern einen idealen Identitätskern zu definieren, so ähnlich wie manche ein "geheimes Deutschland" suchten, das durch die zwölf Jahre des Nationalsozialismus hindurch unversehrt geblieben sein könnte.

Ausgerechnet das "wahre", zwischendurch "hilflose" Österreich, das 1945 sein Geschick wieder in die eigenen Hände nehmen wollte, wurde allerdings in einer bezeichnenden Wendung zu der "Lebenslüge" der Zweiten Republik, zu einer Lüge, die erst durch die Affäre Waldheim unhaltbar zu werden begann. Das Österreich von 1945 war fast das gleiche, kleine Österreich, das 1918 von einem Imperium übriggeblieben war, das auch nach 1945 viele immer noch für das "wahre" Österreich zu halten geneigt waren.

Kontinuität als Fantasie

Ein prominentes Beispiel dafür ist der Film Der Engel mit der Posaune (1948) von Karl Hartl. Man könnte von einer Kontinuitätsfantasie sprechen, die über die Brüche des langen 20. Jahrhunderts hinweghelfen soll. Paula Wessely spielte Henriette Stein, eine bürgerliche Frau, die dem unglücklich verheirateten Thronfolger Rudolf innigst zugetan war. Das letzte Rendezvous in Mayerling endet stimmungsvoll bei "Zigeunermusik" und im Mondschein. Henriette heiratet einen anständigen Mann, und der Film, der auf einem Roman von Ernst Lothar beruht, zeigt sie danach an den wesentlichen Wegscheiden der österreichischen Geschichte bis 1945. Zu diesem Datum ist sie selbst schon sieben Jahre tot, sie nimmt sich, als Halbjüdin von der SA bedrängt, das Leben.

Das Schicksal der Juden (und ihrer österreichischen Feinde), das die Unabhängigkeitserklärung von 1945 noch geflissentlich übersehen hatte, taucht hier in einer populären Erzählung auf, die einen bemerkenswert bürgerlichen Akzent setzt und der es dabei gleichzeitig gelingt, einen habsburgischen Mythos zu schaffen.

Die Strahlkraft der Monarchie und der mit ihr verbundenen metaphysischen Staatsidee hielt auch danach noch eine Weile an, das prominenteste Beispiel dafür ist bezeichnenderweise der deutsche, katholische Intellektuelle Reinhold Schneider, der von 1957 auf 1958 einen Winter in Wien verbrachte und in der ehemaligen Reichshauptstadt die "Zerstörung der großen Form Österreich" beklagte. Er meinte damit den Abschied von der Vorstellung, ein politisches Gemeinwesen könnte einen höheren Zweck haben als nur den einer sozialen (Selbst-)Organisation.

Eine Art Phantomschmerz

Für viele Österreicher aber verband sich mit der "großen Form" Österreich etwas Banaleres: eine Art Phantomschmerz, der auf dem kleinen, mitteleuropäischen, immerhin neuralgisch gelegenen Territorium wirksam blieb und den die phasenweise mit weltpolitischen Vermittlungsambitionen aufgeladene Neutralität nur so halbwegs aufwiegen konnte. Der Historiker Oliver Rathkolb spricht von einem österreichischen "Solipsismus" und meint damit eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, sich in ein Verhältnis zu den tatsächlichen Gegebenheiten des Landes zu setzen. Solipsistisch schwanken viele Österreicher (und vielleicht mehr noch deren Leitmedien) zwischen Größenfantasien und Ausstieg aus der Geschichte.

Habsburg selbst verlor im Zuge der unausweichlichen Modernisierung in der Zweiten Republik an symbolischem Gewicht, erst in jüngerer Zeit konnten durch unvoreingenommene historische Forschung auch die Verdienste der Monarchie gewürdigt werden, ohne dass dies als revisionistisch erscheinen muss. In der Auseinandersetzung um das "wahre" Österreich spielte der Kaiser bald keine allzu große Rolle mehr.

Aber ein Motiv aus den Jahren vor 1914, als die Geschichte den Eindruck erwecken konnte, sie wäre auf Pause gestellt, tauchte in den beiden prominentesten intellektuellen Versuchen der jüngeren Zeit wieder auf, Österreich auf Begriffe zu bringen: Sowohl Josef Haslinger in Politik der Gefühle als auch Robert Menasse in Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik kommen zu einem Befund, der sich als Mangel an Politik zusammenfassen lässt. Stattdessen werden emotionale Muster bestärkt und Harmoniekonstruktionen verfestigt, die vielfach bis heute mit einem Ideal von Österreich zu tun haben, das seine deutlichste Ausprägung in den Heimatfilmen nach dem Krieg bekam. Ein idyllisches Österreich, ein Land der Schönheit wurde da entworfen, das seiner Kleinheit die kurzen Wege verdankt, auf denen hier vieles informell (und nicht institutionell) gelöst werden kann - der Wilderer kann auf diese Weise noch so bestraft werden wie der Viehdieb im Western.

Für die Historiker tut sich hier ein Spannungsverhältnis auf, das sich in den Begriffen Staatsnation und Kulturnation manifestiert. Eine Staatsnation legt das größere Gewicht ihres Selbstverständnisses auf die funktionierenden Prozesse (formelle Identitätszuweisung, Gewaltmonopol, Rechtssetzung ...), bei denen es keine Rolle spielt, ob jemand seit "immer schon" oder erst seit der Wohnsitznahme deren Subjekt ist. Diese Prozesse kennen keinen identitären Vorsprung. Eine Kulturnation versteht sich über andere Faktoren, die eher mit Zugehörigkeit zu tun haben. Wem gehören die Sängerknaben, wem gehört das Burgtheater, wem gehört Thomas Bernhards Heldenplatz, wem gehört der Wiener Schmäh?

Ein Gegen-Österreich

Es ist kein Zufall, dass viele kulturelle Größen, auf die Österreich sich etwas zugutehält, von Qualtinger über Jelinek bis zu Haneke, eine mindestens zwiespältige Beziehung zu ihrem Heimatland (schon das Wort ist dubios) haben. Dem "wahren" Österreich setzen Künstler häufig ein wahreres Österreich entgegen, das aus der Dekonstruktion von Identität erwächst. Und noch dies ist Teil einer Spannung, die zum Erbgut moderner Gesellschaften gehört: Sie kompensieren mehr oder weniger notgedrungen die bürokratischen Formalisierungen, auf denen sie beruhen, durch Kultur. Aber mit der Kultur kommt man eben heute an kein Ende mehr, an keinen Wesenskern.

Die siebzig Jahre seit 1945 könnte man auf eine scheinbar widersinnige Formel bringen: Einem alten Land ist es in dieser Zeit gelungen, allmählich ein bisschen jünger zu werden. Österreich braucht heute kein Ostarrichi mehr, um sich zu verstehen. Dass es inmitten eines Erdteils liegt, der gerade seine welthistorische Verantwortung neu zu verstehen beginnt, das wäre der nächste Schritt zu einem "wahren", zu einem europäischen Österreich. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 25.4.2015)