"Egal, wer das Land regiert, keine Koalition könnte ihre Anliegen mehr zu hundert Prozent durchsetzen", erklärt der Parlamentsexperte Werner Zögernitz angesichts der Vorgaben aus Brüssel.

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Auch wenn in Österreich die "Mir san mir"-Mentalität bis heute gern hochgehalten wird, die gesetzlichen, sicherheitspolitischen wie wirtschaftlichen Verflechtungen des Landes sind am 70. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung so dicht wie nie zuvor. Von der Glühbirne im eigenen Wohnzimmer bis zu den Verkehrsschildern im heimischen Straßenverkehr ist das Leben von Brüssel aus beziehungsweise aufgrund anderer internationaler Abkommen durchreglementiert.

Brüssel lässt grüßen

Für den STANDARD hat der Parlamentsexperte Werner Zögernitz anlässlich des Jubiläums erhoben, wie viele Rechtsakte hierzulande im Vorjahr allein aufgrund der Mitgliedschaft der Union gesetzt wurden: Exakt 2.362 Stück gingen 2014 auf entsprechende Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse zurück – was bereits einem Anteil von 55 Prozent entspricht. Nur 977 Rechtsakte initiierte der Bund (23 Prozent), immerhin 950 rechtliche Vorgaben setzten die Bundesländer in ihren jeweiligen Einflussbereichen (22 Prozent). Von juristischer Autarkie könne daher längst nicht mehr die Rede sein, erklärt Zögernitz, und ergänzt: "Egal, wer das Land regiert, keine Koalition könnte hier ihre Anliegen mehr zu hundert Prozent durchsetzen."

Immerwährender Mythos

Obwohl gerade das von Politikern in Wahlkämpfen ganz gern suggeriert wird. Ebenso, dass wir aufgrund der am 26. Oktober 1955 festgeschriebenen Neutralität eine sicherheitspolitische Insel wären, die sich aus Konfliktherden heraushalten kann. Aber auch das ist seit dem Beitritt zur Union 1995 Geschichte, wie der Wiener Verfassungsrechtler Heinz Mayer analysiert.

Durch das Schengener Abkommen sind der Republik nicht einmal mehr ständige Grenzkontrollen gestattet, angesichts des russisch-ukrainischen Konflikts trägt Österreich als EU-Mitglied genauso die Sanktionen gegen Moskau mit. Aber auch militärisch macht sich die Republik seit Ende der Neunziger, seit dem Vertrag von Amsterdam, im Rahmen von EU-Missionen mit UN-Mandat stark, seit neuestem auch in Zentralafrika. Dazu Mayer: "Von der klassischen Neutralität, wie sie die Schweiz pflegt, beherzigen wir nur noch das Verbot, hierzulande ausländische Truppen zu stationieren, sowie den Verzicht auf die Mitgliedschaft bei einem Militärbündnis." Und noch etwas merkt der Experte an: "Ein immerwährend Neutraler müsste auch dafür sorgen, dass er nicht nur in Kriegszeiten, sondern auch in Friedenszeiten selbstständig existieren kann."

Keine BMWs, nur Motoren

Doch würde Österreich seine Grenzen von heute auf morgen dichtmachen, ginge den Menschen im Land bald die Kleidung aus, und es gäbe keine schicken Smartphones mehr. Wer dann noch einen BMW kaufen möchte, müsste sich mit dem Motor begnügen. Davon werden in Steyr jährlich mehr als eine Million Stück hergestellt, zusammengebaut werden die Autos danach aber im Ausland. Die österreichische Exportquote hat sich seit dem EU-Beitritt auf nahezu 60 Prozent verdoppelt. Sie misst den Anteil der Exporte an der heimischen Wirtschaftsleistung. Dasselbe ist auch mit den Importen passiert.

Jobs hängen am Export

Jeder fünfte Arbeitnehmer im Land ist mittlerweile bei einem aus dem Ausland kontrollierten Unternehmen beschäftigt. Die meisten ausländischen Investitionen kommen aus Deutschland, Italien und den USA, an vierter Stelle liegt laut der Bank Santander Russland. Mehr als eine Million Menschen haben hierzulande einer Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche zufolge Jobs, die am Export hängen. Die österreichische Fahrzeugindustrie würde ohne den Außenhandel etwa zusammenbrechen, sie verkauft 90 Prozent ihrer Produkte ins Ausland.

"Würden wir uns abschotten und etwa zum Schilling zurückkehren", sagt Wifo-Ökonom Fritz Breuss, "hätte das dramatische Auswirkungen." Für kleine Länder wie Österreich sei der Außenhandel besonders wichtig und nützlich, auch vom EU-Beitritt habe das Land sehr profitiert, sagt der Wirtschaftsforscher.

Dennoch sind die Österreicher Globalisierungsskeptiker. In einer Eurobarometer-Umfrage gaben vor fünf Jahren 75 Prozent an, dass sich die internationale Verflechtung nur für große Unternehmen lohne, nicht für die Bürger. Im EU-Schnitt stimmten 62 Prozent dieser Aussage zu. (Andreas Sator, Nina Weißensteiner, DER STANDARD, 25.4.2015)