70 Jahre nach dem Kriegsende, das ist immerhin die Zeitspanne eines ganzen Menschenlebens. Da möchten viele endlich beginnen, mit dem Gedenken aufzuhören. Einen aufgrund der verstrichenen Zeit legitimierten Schlusspunkt setzen. Vermutlich meint eine Mehrheit, sie habe bereits ausreichend gedacht und die Vergangenheit bewältigt. Es werden in den kommenden Gedenkreden bei Gedenkveranstaltungen sowohl salbungsvolle, scheinfromme als auch aufrichtige und wahrhaftige Worte der Versöhnung gesprochen werden.

Die Vergangenheit bewältigen ist eine dieser Wendungen, die den Gedanken auf die falsche Spur locken. Bewältigen trägt den Charakter des Abschließenden in sich. Wir können viele Dinge bewältigen: schwierige Aufgaben, Verhandlungen oder schwere Krankheiten. Was man jedenfalls nicht vollends bewältigen kann, sind Vergangenheit und Tod. Beiden kann man sich nur stellen, diesen gegenübertreten, sich mit ihnen auseinandersetzen. Lebenslang.

Während der NS-Zeit verfiel die deutsche Sprache in Armut, wie Viktor Klemperer in seinem Notizbuch eines Philologen vermerkte. Heute droht die Sprache in die Armut der Verkürzung zu verfallen. Denn die Vergangenheit spielt in den Social Media keine Rolle mehr, sie erlischt in der Unbarmherzigkeit der Timeline.

Giftiger Sprachsumpf

Doch in der analogen Welt erlischt die Vergangenheit nicht, Restbestände der verschmutzten Sprache von 1945 sind heute immer noch da. Wie zerplatzende Blasen auf der Oberfläche eines giftigen Sprachsumpfes. Und wie herkömmliche Verschmutzungen haben auch jene der Sprache einen Grund. Dieser liegt nicht mehr im verbalen Rassenwahn der NS-Zeit, er hat sich gewandelt und angepasst. Als verbaler Bodensatz richtet er sich heute gegen "die anderen": Xenophobie, lslamophobie, ein neuer Antisemitismus, versehen mit einem stabilen Kern aus Intoleranz und Verbalradikalismus.

Erst jüngst platzte eine dieser sprachlichen Sumpfblasen in Form der Bezeichnung "Lügenpresse". Lügenpresse stammt aus dem 19. Jahrhundert, hatte im Ersten Weltkrieg und während der NS-Zeit Hochkonjunktur und wurde in der DDR gegen die westdeutsche Presse verwendet. Im Vorjahr gelangte sie durch die Pegida-Bewegung in Dresden wieder ans Tageslicht. Das ehemalige gesunde Volksempfinden war als scheinbar harmloser gesunder Menschenverstand wieder erwacht.

"Wien den Wienern"

"Österreich den Österreichern" und "Wien den Wienern" wird in verschiedenen Varianten im kommenden Wahlkampf erneut unsere Straßen zieren. Die positiv formulierten Slogans, hinter denen der Begriff "Überfremdung" steckt, sind Restbestände aus dem Arsenal des Rassenbewusstseins der NS-Diktatur. Die im Jahr 2015 erneut verbale Ausschließung praktizierenden Plakate werden gerade konzipiert. Man wird taktisch nur noch den Song Contest abwarten, der sowohl mit aufrichtiger Offenheit als auch mit geheuchelter Toleranz abgefeiert werden wird. Jede der politischen Parteien wird ihn großartig bis lustvoll finden und versuchen, diesen für sich zu vereinnahmen, sich weltoffen zu zeigen und politisches Kleingeld zu sammeln. Sobald wir jedoch wieder unter uns sind und Europas Medien nicht mehr zusehen, werden die sprachlichen Verschmutzungen erneut losbrechen. Mit Sprachresten, die aus Wörterbüchern von Unmenschen und dem damaligen Erhalt der Volksgemeinschaft stammen. "Denn der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!", konstatierte Bertolt Brecht 1941.

Vergiftete Sprache auf der Grundlage von verseuchtem Denken, das war eines der Ergebnisse eines Terrorregimes, das sogar den Terminus der Säuberung pervertierte. Auch die rasche, geradezu vorauseilende sprachliche Nazifizierung der Duden-Auflagen ab 1934 zeigt diese Gleichschaltung. Erst nach und nach wurden "die tausend Finsternisse todbringender Rede" (Paul Celan) wieder aus dem deutschen Sprachschatz getilgt. Verbale Relikte des Fanatismus von damals überdauerten bis heute in politischen Randgruppen. Sedimente des Fanatismus, etwa im Sport und in der Populärmusik, wurden unpolitisch und aus dem Angloamerikanischen als Fan reimportiert. Sich mitreißen zu lassen, seine Individualität in der Masse aufzugeben und zu einem Teil des Sprachchores zu werden sind jedoch nicht immer nur harmlose Praktiken des Begeisterungstaumels. "Massen werden zu einem Körper, zu einer Emotion und zu einem Geist", notierte Elias Canetti bereits während der Ersten Republik.

Restlos sauber

Der nur selten zu Metaphern neigende Ludwig Wittgenstein deutete 1940 an, wie die Reinigung der Sprache funktionieren könnte: "Man muß manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben - und kann ihn dann wieder in den Verkehr einführen." Das Wort Leistung ist heute bereits "restlos sauber". Leistungsanreize und Leistungsprinzipien sind in ihr ökonomisches Korsett zurückgekehrt, obwohl sie zum Sprachinventar der NS-Leistungsgemeinschaft zählten. Vollständig "gereinigt" sind mittlerweile auch Begriffe wie Neuordnung Europas und Lebensraum. Eine sprachliche Entnazifizierung dauert vermutlich Jahrzehnte, sieben davon sind bereits verbraucht. (Paul Sailer-Wlasits, DER STANDARD, 25.4.2015)