Die Optik täuscht. Das ist keine Austropopband, die Flagge bekennt, es sind Tocotronic aus Hamburg beim Lockerbleiben. Ihr neues Album erscheint Ende der Woche. Das Thema diesmal: die Liebe.

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Tocotronic besingen gewohnt melancholisch das Erwachsensein und die Sehnsucht nach der trotzigen Kindheit. "Wir sind Babys – sie erziehen uns nicht."

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Wien – An Roy Black kommen sie nicht heran. Und an Howard Carpendale ebenso wenig. Weder der Intensität des irrlichternden Bekenntnisses "Wahnsinn" noch jener des in die Knie zwingenden "Ti Amo" kommen Tocotronic nahe. Dabei ist das Sujet der Betrachtung dasselbe: die Liebe. Oder "Amore", wie wir Österreicher neuerdings sagen. Tocotronic verschwenden ein ganzes Album an das Thema. Es ist ihr elftes und erscheint am 1. Mai. Man weiß zwar nicht, wie viele Plattenläden am Tag der Arbeit Dienst tun, aber das Internetz hat wohl offen.

Das "Rote Album"

Das Album trägt wie so viele Sterne da draußen keinen Namen, inoffiziell firmiert es als das Rote Album. Denn das Cover ist rot. Nicht bloß rot, es ziert das Abbild einer Arbeit des russischen Künstlers Kasimir Malewitsch. Die Vereinnahmung des 1935 verstorbenen Avantgardisten illustriert bereits: Selbst wenn die Hamburger über das Allerweltsthema des Pop sinnieren, wird's kompliziert.

Liebe wird nicht einfach und offen gestanden. Kein das Leben erleichterndes "Ich Tarzan, du Jane". Zuneigungsbekundungen erfolgen durch belesene Poesiealbumverse, immer durch die Blume, also eingedenk des Diktats, dass alles einmal um die Geheimratsecken gedacht sein muss, bevor es Tocotronic genug ist. So viel Migräne muss sein.

Denn Tocotronic gelten als Diskurspopband, und so eine Aura gehört gepflegt. Dazu verpflichtet die Zugehörigkeit zur Hamburger Schule, in die das Trio, etwas spätgeboren, 1995 mit seinem Debüt "Digital ist besser" eintrat. Ihre Musik war altersgemäß dem Sturm und Drang verpflichtet, dazu sangen sie auf Deutsch offenherzige, mitunter geistreiche Texte, von denen sich viele als vife Slogans und Sager im Alltag von Popnerds wiederfanden.

Soundkostüm, das nach New Order klingt

Es folgte eine seit nunmehr 20 Jahren dauernde Karriere als beständige Qualitätspopband für die A- und B-Schicht sowie die Zielgruppe Nasenfahrrad/Umhängetasche, die dem bubenhaften Charme des zart ergrauenden Sängers Dirk von Lowtzow bis heute gerne erliegt. Das hilft.

Denn nicht all seine Texte sind immer von jenem lichten Geist durchdrungen, den das deutsche Feuilleton der Band regelmäßig und wie pflichtschuldig im Staub vor ihnen liegend attestiert. Aber gut, welcher Songwriter dichtet immer weltbewegend? Immerhin sollen Tocotronic die Ersten gewesen sein, die bei Rock am Ring für Denkfalten im Publikum gesorgt haben. Möglicherweise aber aus den falschen Gründen.

Der Liebe begegnen von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und der seit elf Jahren als vierter Mann partizipierende Rick McPhail nun also in Rot. So viel Klischee darf sein. Musikalisch bemühen Tocotronic ein Soundkostüm, das nach der Band New Order klingt, britisch, irgendwer hat Aztec Camera gesagt, sogar A-Ha winken aus dem Fjord rüber. Das bedeutet eine gewisse Feingliedrigkeit, untermauert von sattem Bassspiel. Die Lieder sind also theoretisch tanzbar, ob das Tocotronic-Publikum das so lebt, wird erst ein Realitycheck ergeben.

Liebe als Denksport

Gängige Merkmale wie Verbalschmalz umschifft die Band wortreich. Und natürlich bemüht sie nicht den Schlager, obschon so mancher Reim dort nicht weiter auffiele, und obwohl das wenigstens für eine Überraschung gesorgt hätte. Aber schon die Art, wie von Lowtzow Wörter wie Zärtlichkeit oder Sexualität intoniert – "Sex-hu-hali-tät" –, schreibt den Begriffen eine Distanz ein. Einen Graben, den Herzblut nicht zu überwinden vermag, ohne vorher zu stocken. Liebe als Denksport, Sex als Sudoku.

Tocotronic verklausulieren also wie gewohnt, reimen, was das Zeug hält, bemühen Streicher für elegante Opulenz. Hübsch, und immer schön freundlich. "Rebel Boys"
mit Manieren, aber ohne heißes Blut. Das gab es schon in der jugendlichen Version nicht, lieber nähern sie sich dem Thema mit einem "Prolog", bevor sie etwas steif "Ich öffne mich" verkünden.

Die Liebe, sang einst Connie Francis, ist ein seltsames Spiel. Tocotronic geben ihr recht. Auf ihre seltsame Art. (Karl Fluch, DER STANDARD, 29.4.2015)