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Ernst K.: "Als Bezieher der Mindestsicherung ist man allerdings für viele das Letzte."

Foto: dpa/Heiko Wolfraum

Wien – Einmal im Jahr begehrt Ernst K. Auskunft bei Behörden, die Daten über ihn sammeln. So sei es ihm möglich, einen besseren Einblick in "das System" zu bekommen. Und: Wenn man nachfragt, so hofft der Wiener, "dann trauen sie sich nicht, ganz so willkürlich zu sein". Ernst K. ist über 50 Jahre alt, arbeitslos und bezieht bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) in Wien. Weil er Repressionen befürchtet, will er seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Knapp 900 Euro erhält Herr K. zwölfmal im Jahr. Neben der Mindestsicherung in der Höhe von rund 830 Euro bezahlt ihm die Stadt Wien Mietbeihilfe. Er hat die Handelsakademie abgeschlossen, somit zählt er zur kleinen Gruppe der Mindestsicherungsbezieher mit Matura. 80 Prozent aller BMS-Bezieher in Österreich werden als "Hilfsarbeiter" deklariert – sie haben keinen Bildungsabschluss beziehungsweise einen Pflichtschulabschluss. In einer Studie aus dem Jahr 2014 kam das Sozialministerium zum Schluss: Bei der "Vorkarriere" der Bezieher der BMS werden prekäre Erwerbsverläufe im "großen Umfang" sichtbar. Diese Diagnose trifft auch auf Ernst K. zu.

Langzeitarbeitslosigkeit

Ein in den 1980er-Jahren begonnenes Wirtschaftsstudium hat er nie abgeschlossen. Dafür hat er "gejobbt". Als Lagerist oder als Sekretär. "Plötzlich war ich 40 und musste feststellen: In diesem Alter sind die Chancen auf einen ordentlichen Job bereits sehr gering." Der Sohn aus einer Beamtenfamilie hielt sich mit Zuwendungen von Verwandten über Wasser. 2008 suchte er erstmals um Sozialhilfe an, heute bezieht er die Mindestsicherung. So wie Ernst K. waren im Jahr 2013 rund 238.000 Personen auf eine Leistung aus der BMS angewiesen. Etwa ein Viertel der Bezieher lebt zur Gänze davon. Der große Rest sind sogenannte "Aufstocker". Sie erhalten zu ihrem niedrigeren Einkommen oder etwa zum Arbeitslosengeld die Differenz zur Mindestsicherung.

Als "langzeitbeschäftigungslos" gilt ein Drittel aller Bezieher der Mindestsicherung. Auch Herr K. zählt zu dieser Gruppe, die länger als 365 Tage ohne Job ist. Ein Job, von dem man leben kann, der mehr einbringt als die Mindestsicherung, das wünscht sich Ernst K. Wie viele Bewerbungen er verschickt hat, seit er die Mindestsicherung bezieht? Er hat aufgehört, sie zu zählen. Vor Jahren hat er den Computerführerschein beim AMS gemacht. Der ersehnte Job sei trotzdem ausgeblieben.

Diverse Schriftstücke, die er fein säuberlich geordnet hat, erzählen einen Teil seiner Geschichte. Da ist zum Beispiel ein interner Aktenvermerk, den er erst nach der zweiten Anfrage lesen durfte, als er wieder einmal beim Arbeitsmarktservice um die Bekanntgabe der über ihn gesammelten Daten ansuchte. "Beim ersten Mal war diese Stelle geschwärzt", erzählt er. "Diese Stelle" ist die Weiterleitung eines seiner Bewerbungsschreiben an das AMS. "Der Herr hat nicht die geringste Lust auf Arbeit", lässt die Mitarbeiterin eines Unternehmens, bei dem sich Ernst K. einmal beworben hat, das AMS wissen. Den Grund für diese Meldung kann er sich nicht erklären. K. zückt einen Stapel Absagen: "Die sind wenigstens freundlich." Als Bezieher der Mindestsicherung sei man allerdings für viele "das Letzte", wovon auch die datenschutzwidrige Weiterleitung seines Bewerbungsschreibens an das AMS zeuge.

Willkürliche Kürzungen

Seine fast 90-jährige Mutter wurde zu Beginn des Jahres ins Krankenhaus gebracht. Zwei Wochen verbrachte K. dann bei seiner plötzlich pflegebedürftigen Mutter, die in einem anderen Bundesland lebt. Gemäß den Vorgaben des Sozialamtes meldete er seine Absenz, inklusive einer ärztlichen Bestätigung. Das Retourschreiben kam prompt: Da er sich in diesem Zeitraum nicht in Wien aufgehalten hat, besteht kein Anspruch. Zurückzuzahlen sind 280 Euro in Monatsraten. Und: "Da das öffentliche Interesse des Landes Wien als Träger der Mindestsicherung, die Erfüllung von Rückforderungsansprüchen sicherzustellen, höher zu bewerten war als das Interesse anspruchsberechtigter Personen an einem Zahlungsaufschub, war die aufschiebende Wirkung auszuschließen", ist im gezeigten Dokument zu lesen.

Herr K. sieht das als "willkürliche Bezugskürzung". Dass Kürzungen österreichweit nicht einheitlich gehandhabt werden, offenbart die genannte Studie des Sozialministeriums. Darin heißt es: Zu Leistungskürzungen kommt es in erster Linie wegen mangelnder Arbeitswilligkeit oder aufgrund einer Sperre beim AMS. Verstöße gegen die Mitteilungspflicht werden von rund zwei Dritteln aller befragten Behörden sanktioniert. Maßgeblich sei die Betrugsabsicht. Auch die Frage, ob eine schriftliche Vorwarnung an die Betroffenen verschickt wird, handhaben die Behörden unterschiedlich. Drei Viertel der Behörden verschicken Vorwarnungen. Selbst die Zeit, die anschließend bleibt, um auf die Mitteilung zu reagieren, variiert sehr stark: Die Spanne reicht von einer Woche bis hin zu sechs Monaten.

Für K. hat die für ihn unerwartete Rückforderung beträchtliche Auswirkungen. Er wird in den kommenden Monaten bei den Lebensmitteln noch mehr sparen müssen. Den Traum vom neuen Kühlschrank habe er ohnehin aufgegeben. Dass er mit der Miete in Rückstand kommt, will er vermeiden: "Denn dann bist du ruck, zuck draußen aus der Wohnung." (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 5.5.2015)