Diese das Land definierende Wahl ist die europäischste, die Großbritannien je gesehen hat. Weil kleine Parteien und Regionen oder Nationen innerhalb des Staates dabei eine zentrale Rolle innehaben, wird das Wahlergebnis beinahe sicher eine Koalition oder eine Minderheitenregierung sein - alles schrecklich unbritisch und typisch kontinental. Dennoch könnte diese europäischste Wahl damit enden, dass Großbritannien die EU verlässt und Schottland das Vereinigte Königreich. Sie könnte auch bedeuten, dass es drastische Einsparungen in Teilen des öffentlichen Haushaltes gibt, die Ungleichheit (speziell in England) wächst und die Bürgerrechte weiter erodieren.

Freiheit und EU

Als englischer Wähler sind das alles Dinge, die ich verhindern möchte. Ich will, dass Schottland und England zusammenbleiben, Großbritannien in der EU bleibt, die britische Gesellschaft die Effizienz der Marktwirtschaft mit sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu verbinden versucht. Und ich will, dass ich die größtmögliche individuelle Freiheit habe, die sich mit der Freiheit anderer vereinen lässt.

Wie lässt sich das erreichen? Die meisten Vorwahl-Kommentare in britischen Zeitungen und Magazinen endeten mit der Aufforderung, entweder für Labour oder die Konservativen zu stimmen. Die beiden einzigen Personen, die eine Chance auf das Amt des Premierministers haben, sind David Cameron und Ed Miliband. Meine Wahl als individueller englischer Wähler allerdings ist komplizierter.

Ich muss zunächst die Konsequenzen für britische Regierungen kalkulieren, die sich daraus ergeben, wie die Schotten, die Nordiren und - mit etwas geringerem Gewicht - die Waliser abstimmen werden, die natürlich alle ein gutes Recht darauf haben, nach ihren eigenen nationalen (oder je nach Geschmack) subnationalen Interessen zu wählen. Der als beinahe sicher angenommene Triumph der Scottish National Party (SNP) in ganz Schottland wird einen großen Einfluss haben. Hätten wir ein kontinentales System des Verhältniswahlrechtes, dann könnte ich generell für jene Partei stimmen, der ich nahestehe. Das würde deren Präsenz im Parlament und deren Chancen, eine neue Regierung zu bilden, steigern. Unser System dagegen ist für diese Art der europäischen Politik, in die Großbritannien neuerdings hineingestolpert ist, nur schlecht geeignet.

Keine Stimme

In vielen englischen Wahlkreisen wird der Wähler überhaupt keine Wahl haben, weil dies "sichere Sitze" für einen Kandidaten der Labour oder der Konservativen sind. Unlängst sagte jemand im Radio, er habe das Gefühl, dass seine Stimme seit 40 Jahren nicht zählt. In den Wahlkreisen, die traditionell eine britische Wahl entscheiden, werde ich üblicherweise die Wahl zwischen zwei Parteien haben - und möglicherweise keiner der beiden etwas abgewinnen können. Daran sind die britischen Wähler so gewöhnt, dass wir vergessen haben, wie unbefriedigend dies ist. Eine vorgeschlagene Wahlrechtsreform allerdings wurde bei einem Referendum 2011 deutlich abgelehnt. Deshalb müssen wir das Beste aus dem machen, was wir haben.

45 Sitze beeinflusst

Das bedeutet, zuweilen mit dem Verstand statt mit dem Herzen zu wählen. In Großbritannien wird dies traditionell "taktisches Wählen" genannt, was einen leicht pejorativen Beigeschmack hat. Nichtsdestotrotz hat der Politologe Stephen Fisher aus Oxford errechnet, dass einer von zehn britischen Wählern in der Vergangenheit so vorgegangen ist, was die Ergebnisse bei etwa 45 Sitzen beeinflusst hat. Diesmal sollte noch mehr von uns so handeln - und wir sollten das als strategisches und nicht taktisches Wählen sehen.

In Teilen ist diese strategische Auswahl etwas kompliziert. Klar ist, dass derjenige, der um Englands Willen will, dass Schottland im Vereinigten Königreich bleibt, auch dafür sein muss, dass dieses in der EU bleibt. Würden die Engländer für einen EU-Austritt stimmen und die Schotten dafür, bei der EU zu bleiben, dann würde SNP-Chefin Nicola Sturgeon mit großer Sicherheit ein neues Unabhängigkeitsreferendum fordern. Brexit ist der sicherste Weg zu Scoxit. Aber was ist der sicherste Weg Brexit zu verhindern?

Rationale Europapolitik

Labour hat eine rationalere und konstruktivere Europapolitik als die Konservativen. Dennoch bin ich nicht überzeugt davon, dass fünf Jahre mit einer schwachen Labour-Minderheitenregierung, mit greifbarem SNP-Einfluss, der englische Ressentiments anfeuert, sowie Konservativen, die ihre eigene Einheit mit Europa-Bashing erhalten, unterstützt von der nichtschottischen Sun, uns in eine bessere Position bringen, das EU-Austrittsreferendum zu gewinnen, das früher oder später kommen wird.

Andere Fragen sind leichter zu beantworten. Paul Johnson vom Institute for Fiscal Studies zufolge könnte es, wenn die gegenwärtigen Budgetpläne der Konservativen ausgeführt werden und das Gesundheitswesen, Schulen sowie Pensionen von Kürzungen ausgeschlossen bleiben, zu weiteren Budgetkürzungen um 41 Prozent in allen nichtgeschützten Bereichen kommen. Natürlich müssen wir uns über die hohe öffentliche und private Verschuldung in Großbritannien Sorgen machen, aber das ist verrückt. Es bedeutet, dass Teile der öffentlichen Ausgaben - mit dem offensichtlichen Wahlkalkül, Wähler der Mitte, Frauen und Ältere zu umwerben - geschützt werden, über alle anderen aber - die sozialen Einrichtungen, das Außenamt, die Landesverteidigung (ausgenommen das Trident-Programm), Kultur und Universitäten - hergefallen wird.

Wird das ausgeführt, wäre nicht ein neoliberaler Nachtwächter-Staat (zurück in die 1930er-Jahre) die Folge, sondern ein Staat, der wie das Londoner Olympia-Logo aussieht: ein furchtbares Durcheinander.

Wählt mit Verstand

Einige dieser Entscheidungen mögen kompliziert sein, aber die grundsätzliche Botschaft ist klar: Wählt mit eurem Verstand. Wenn Sie sich also in einem englischen Wahlkreis befinden, der an Labour oder die Konservativen fallen könnte, müssen Sie antizipieren, dass Labour in Schottland dezimiert werden wird. Wenn ihnen also die Balance im Parlament in Westminster wichtig ist, ist das ein guter Grund, dort für Labour zu stimmen.

Wenn Sie dagegen in einem konservativ-liberaldemokratischen Wahlkreis leben, verschwenden Sie nicht ihre Stimme auf Labour. Für all die Prioritäten, die ich erwähnt habe, ist es wichtig, dass es noch immer einen harten Kern von etwa 35 liberaldemokratischen Abgeordneten gibt, die entweder mit Labour oder den Konservativen koalieren können oder allenfalls eine rechte oder linke Minderheitenregierung beeinflussen können. Diese Abgeordneten würden auch stark genug sein, um im Parlament die Flagge der Bürgerrechte hochzuhalten - ein Thema, das die beiden Großparteien chronisch ignoriert haben.

Liberales Zentrum

Kurzum: Die Engländer müssen strategisch abstimmen, damit das liberale Zentrum bestehen bleibt. Diesmal bedeutet das nicht nur das liberale Zentrum der britischen Politik, sondern das liberale Zentrum Großbritanniens als solches. (Timothy Garton Ash, 7.5.2015)