Die vergangenen Monate hat Josip Molnar (Name von der Redaktion geändert) auf dem Baukran verbracht. Jetzt sitzt er auf einer Parkbank am Esteplatz im dritten Wiener Gemeindebezirk. Der 53-jährige Kroate hat sich gerade beim Arbeitsmarktservice arbeitslos gemeldet. "Die Baustelle ist fast fertig und der Kran abgebaut. Es gehört nur mehr zusammengeräumt." 25 neue Wohnungen seien in Fels am Wagram in Niederösterreich errichtet worden. Richtig freuen kann er sich kaum, wenn alles geschafft ist. Denn immer öfter tritt Molnar gleich danach den Weg zum AMS an.

Früher fand er nach ein paar Wochen gleich wieder einen Job, sagt er, spätestens nach ein paar Monaten. Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. "Damals war das Heft mit den Stellenangeboten im AMS voll", sagt er. Zwischen seinen Zeigefinger und seinen Daumen passt ein dickes Buch, wenn er zeigt, wie hoch der Stapel mit der Liste an offenen Jobs war. Jetzt gebe es kaum mehr Arbeit. "Ich weiß nicht, wie hoch die Arbeitslosigkeit in Prozent ist", sagt er. "Aber ich denke, es sind viele."

Josip Molnar hat erst vor kurzem seinen Job als Kranfahrer verloren.
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Für Molnar ist es vielleicht besser, die Statistiken nicht genau zu kennen. Denn die Arbeitslosenrate ist in den vergangenen Monaten weiter nach oben geklettert. Sie liegt bei 9,2 Prozent, das ist Rekord. So hoch war sie in der Geschichte der Zweiten Republik noch nie. Inklusive Schulungsteilnehmern hatten nach AMS-Definition 420.000 Menschen keinen Job. Im Vorjahr musste Österreich dann auch seinen Platz als Nummer eins – das Land hatte während der Krise die niedrigste Arbeitslosenrate Europas – an Deutschland abgeben. Heuer ziehen voraussichtlich Großbritannien, Tschechien und Luxemburg vorbei.

Zu einem kleinen Teil liegt der Anstieg an der Statistik. Weniger Arbeitslose befinden sich in Schulungen und sind damit offiziell auf der Suche nach einem Job. Die schwierige Lage am Arbeitsmarkt erklärt das aber nicht. Was ist also los mit dem einstigen Europameister? Ist Österreich endgültig "abgesandelt", wie es Christoph Leitl, der Präsident der Wirtschaftskammer, vor zwei Jahren ausdrückte?

Die Arbeitslosenrate steigt stark an. Zuletzt auch, weil es weniger AMS-Schulungen gibt.

Auf diese Fragen findet sich einfacher eine Antwort, wenn man die vergangenen Jahre in zwei Abschnitte einteilt. Im ersten, der Zeit der Finanz- und Eurokrise ab 2008, hat sich nur die Situation Deutschlands verbessert. Fast allen anderen Ländern Europas ist es deutlich schlechter ergangen als Österreich. Trotz der steigenden Arbeitslosenrate sind die Menschen hierzulande noch eher glimpflich davongekommen.

Im zweiten Abschnitt, seit 2014, verbessert sich die Situation nicht mehr nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas, während es in Österreich bergab geht. Aber der Reihe nach.

Mit keinem anderen Land vergleicht sich Österreich so gerne wie mit Deutschland. Die niedrigere Arbeitslosenrate war für die österreichische Regierung lange so etwas wie das Córdoba der Arbeitsmarktpolitik. Deutschland hat zuletzt aber nicht nur eine Fußballweltmeisterschaft gewonnen, für die sich Österreich nicht einmal qualifiziert hat – Deutschland ist noch etwas ganz anderes gelungen: Es ist das einzige Land Europas, in dem die Arbeitslosigkeit seit 2008 substanziell zurückgegangen ist.

Die Krise hat die Rate in Deutschland kaum erhöht, seit 2010 geht sie stark zurück. Das Erstaunliche: Das deutsche Wirtschaftswachstum war bis zum Vorjahr niedriger als das österreichische. In Österreich gab es im selben Zeitraum auch mehr neue Jobs. Wie ist das deutsche Arbeitsmarktwunder dann also möglich? Was macht das Land anders?

Deutschland schrumpft. War das Land vor der Krise, gemessen an der Bevölkerung, noch zehnmal so groß wie Österreich, ist es heute nur mehr 9,5-mal so groß. Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen ist in sechs Jahren um 1,5 Millionen Menschen gesunken, Österreich hingegen wächst. Die gegenläufige Entwicklung liegt an der Zuwanderung, die in Österreich in den vergangenen Jahren im Verhältnis zu Deutschland fast doppelt so hoch war, und an der Alterung der deutschen Bevölkerung.

"Deutschland ist mit Japan das älteste Land der Welt", sagt der Demograf Ramon Bauer von der Universität Wien. "In Deutschland sterben mehr Menschen, als Babys geboren werden. In Österreich nicht."

Reza Karimi ist seit gut zwei Jahren arbeitslos. Sein letzter Job: Küchenhilfe.
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Beim Nachbarn gibt es immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Die deutsche Arbeitslosenrate ist demnach nicht gesunken, weil es mehr Jobs gibt als in Österreich, sondern weil weniger Menschen einen solchen suchen.

Seit dem Vorjahr ist Deutschland aber nicht mehr das einzige Land, in dem sich die Situation verbessert. Weil sich die Konjunktur in der Eurozone aufgehellt hat, ist die Arbeitslosenrate in elf von 19 Ländern zurückgegangen. In Österreich ist sie hingegen gestiegen und soll weitersteigen. Wenn Österreich gegenüber Deutschland zurückfällt, weil die Bevölkerung dort schrumpft, wieso läuft es seit dem Vorjahr auch überall sonst besser?

"Die Schwäche der österreichischen Wirtschaft geht hoffentlich vorüber."

Die heimische Konjunktur will einfach nicht auf die Beine kommen. Für Wifo-Chef Karl Aiginger gibt es dafür zwei Erklärungen, die Politik und den Zufall. "Die Konjunkturschwäche ist hoffentlich eine vorübergehende Sache", sagt der Ökonom, der so etwas wie der oberste Wirtschaftsforscher des Landes ist. Österreich seien die Exportmärkte weggebrochen, der Schwarzmeerraum in der Krise. Auch die Länder am Balkan hätten Probleme. Durch Exporte dorthin sei Österreichs Wirtschaft in der Vergangenheit schneller gewachsen als die vieler anderer, sagt Aiginger. "Dass die jetzt ausfallen, ist Zufall. Dieser Push fehlt im Moment aber. In Deutschland wurde das durch China ersetzt, Österreich ist das nicht gelungen."

Omid Farhadi hat 25 Jahre lang eine Firma geleitet, die heuer Pleite ging.
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Aiginger sieht aber einen Teil der Verantwortung auch aufseiten der heimischen Politik. "Die hohe Inflationsrate und die kalte Progression (Anm.: schleichende Steuererhöhung durch nicht an die Inflation angepasste Steuergrenzen) fressen die Lohnsteigerungen auf", sagt er. "Ein Teil der Inflation liegt an der Reformmüdigkeit, die Gebühren wurden kräftig erhöht." Stattdessen hätte man im öffentlichen Sektor sparen können. Das Geld fehlt dann im Konsum, der schwach ausfällt und das Wachstum weiter drückt.

Die Klagen über die sinkende Wettbewerbsfähigkeit hält Aiginger aber "in diesem Ausmaß" für nicht berechtigt, auch wenn ihm dann doch ein paar Punkte einfallen. In der Forschung sei Österreich zwar gut, aber könnte sich noch deutlich verbessern, im Bildungsbereich bewege sich wenig, und im Umweltsektor habe Österreich in den vergangenen zehn Jahren die Führung abgegeben.

Auch in diesem und dem nächsten Jahr soll die österreichische Wirtschaft noch unter dem Schnitt der Eurozone wachsen. Unternehmen haben sich mit Investitionen zuletzt zurückgehalten. Die Industriellenvereinigung führt dies auf die schlechte Stimmung unter den Unternehmern zurück, die die heimische Politik zu verantworten habe.

Besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind Junge und Alte.

Glaubt man den Prognosen der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds, geht die Arbeitslosenrate bereits nächstes Jahr wieder zurück. Wegen der hohen Zuwanderung soll sie aber nur langsam sinken. Das AMS erwartet einen Anstieg bis 2018.

Für den Kranfahrer Josip Molnar klingt das alles sehr vertraut. Sein Heimatland Kroatien ist ein gutes Beispiel dafür, wieso die österreichischen Exporte schwach sind: Es steckt seit Jahren in einer Rezession. Er selbst lebt allerdings schon 16 Jahre lang in Österreich. Die hohe Migration ist auch ihm aufgefallen.

"Auf der Baustelle hört man ganz wenig Deutsch", sagt er. Zuletzt habe er mit einer Gruppe von Türken und zwei Gruppen von Albanern gearbeitet. "Im Container kann ich mit denen nichts reden." Auf der Baustelle davor habe er sich nur mit Willi, einem Deutschen, unterhalten können. Vielleicht liege die schwierige Lage am Arbeitsmarkt ja daran, dass so viele Menschen nach Österreich kommen.

"Junge, gut ausgebildete Ungarn verdrängen früher zugewanderte Personen aus Ex-Jugoslawien."

Dass das einer der Gründe neben der schwachen Konjunktur ist, dafür hat der Chef des AMS, Johannes Kopf, einige Indizien: "Es gibt zum Beispiel junge, gut ausgebildete Ungarn, die früher zugewanderte Personen aus Ex-Jugoslawien verdrängen." Die Arbeitslosenrate von Migranten steige derzeit überdurchschnittlich stark. Und das, obwohl von dem steigenden Beschäftigungsangebot – es gibt trotz der schwierigen Lage mehr Jobs – überwiegend ausländische Beschäftigte profitierten.

Je nach Herkunft gibt es hier aber große Unterschiede. In Österreich beschäftigte Deutsche, die größte Gruppe, hatten im Vorjahr nur eine Arbeitslosenrate von sieben Prozent, auch Ungarn (sechs Prozent) oder Tschechen (7,1 Prozent) sind weniger häufig arbeitslos als Österreicher. Besonders stark steigt die Zahl der Jobsuchenden bei Türken, sie liegt bei 17,4 Prozent. "Sie sind schlechter gebildet", sagt Kopf, "und arbeiten eher in Branchen wie dem Bau, die stark von der Saison abhängen."

Zwischen den einzelnen Einwanderergruppen gibt es große Unterschiede.

Mittelfristig werde Österreich von der hohen Migration wieder profitieren, sagt Kopf. "Ganz Europa bereitet sich auf den demografischen Wandel vor. In zehn Jahren werden wir bessere Wirtschaftswachstumsraten haben, weil wir jetzt gute Leute kriegen." Deutschland verschafft die schrumpfende Bevölkerung derzeit zwar niedrige Arbeitslosenzahlen – Experten machen sich dafür Sorgen über die Sicherung des Sozialsystems und einen Mangel an Pflegekräften und Facharbeitern.

Auch Wifo-Chef Aiginger sieht in der hohen Migration nach Österreich eine Chance. "Natürlich hätte man in einem Jahr gerne mehr, dann wieder weniger", sagt er. "Österreich ist jetzt aber in einer Lage, wo man weder etwas machen kann, noch soll." Die Politik müsse trotzdem dafür sorgen, dass qualifizierte Migranten ins Land kämen und sich auf die Ausbildung der zweiten Generation konzentrieren.

Das Rezept ist altbekannt: Bildung ist entscheidend, um Arbeit zu finden "Jobs für Menschen, die nichts gelernt haben, verschwinden", sagt AMS-Chef Kopf. Die Arbeitslosenrate ist bei Menschen mit nicht mehr als einem Pflichtschulabschluss besonders hoch (24,6 Prozent). Die meisten Jobsuchenden ohne österreichische Staatsbürgerschaft fallen in diese Kategorie. Wer hingegen eine Fachschule oder eine Lehre vorweisen kann, ist seltener betroffen.

Josip Molnar weiß nicht, was er jetzt machen wird. "Die Baubranche ist kaputt." Oft habe er Jobs über Bekannte bekommen. Die seien nun aber selbst arbeitslos. Das AMS könne vielleicht helfen, sagt er, zwei Jobs am Bau habe man ihm angeboten. "Aber da gibt es viele Junge, und ich komme mit 53 daher." (Andreas Sator, 9.5.2015)