Céleste Boursier-Mougenots "Rêvolution" -Hybride aus Natur und Maschine sind ein Anziehungspunkt.

Foto: Jürgen Bauer

Sollen wir noch einmal mit Karl Marx beginnen? Mit den etwa 30 Anwesenden – aber maximal fünf Lauschenden – beim Vormittags-Oratorium von Das Kapital in der Arena von All the World's Futures? Nein, lieber mit Erhebenderem. "Das Problem ist nicht, sich von unseren Illusionen zu befreien. Das Problem ist, sich von Situationen zu befreien, die Illusionen erfordern", lautet ein Zitat von Marx, mit dem Jirí David seinen Beitrag für den tschechischen Pavillon überschrieben hat – in weißen Lettern auf weißer Wand. Wäre das Heraussuchen jeweils passender Zeilen nicht eine schöne Fleißaufgabe für die Teilnehmerländer gewesen und im volksbildnerischen Sinne effektiver?

Jirí David jedenfalls hat doppelt ans Hauptthema angedockt und sich der Frage, wie die Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt, gestellt: Die heroische Aufnahme der Slawen in den Himmel, ein Gemälde zur Gründung der Tschechoslowakei, kopierte er, nicht ohne da und dort aktuelle Motive einzufügen und so Begriffe wie jenen der "Nation" ironisch zu brechen. Der Betrachter steht mit der Nase direkt vor dem Gemälde, sodass Reflexion nur über einen Spiegel möglich wird. Ein eher unaufwändiger Pavillon im Vergleich zu seinem unmittelbaren Nachbarn in den Giardini: Für Frankreich besinnt sich Céleste Boursier-Mougenot auf den Park als eine von Menschenhand geformte Natur, ein Raum der Zuflucht und Ruhe. Eine Idylle, in der sogar die Bäume anfangen zu wandeln. Rêvolution heißt dieser befremdliche Traum von der Evolution, vom Verschmelzen von Natur und Maschine: Drei Pinien samt Wurzelwerk bewegen sich sachte, kaum merklich; Hybride, die eigentlich zum Gruseln sind, aber die sanfte Natur der Bäume lässt die Betrachter lächeln.

Virtuelle Welten

Koreas Zukunftsvisionen halten da mehr Gänsehautmomente bereit: In der effektvollen Mehrkanal-Videoinstallation The Ways of Folding Space & Flying haben die virtuellen Welten schon die Hoheit über die sinnlichen Erfahrungen übernommen; klinisch der Erlebensraum, der den physischen Raum völlig relativiert.

Die spirituelle Variante auf diesen Animismus der Natur, ein doch vorherrschendes Motiv der Biennale, hält Joan Jonas im amerikanischen Pavillon bereit: Sites of spirits heißt ihre ebenfalls von filmischen Projektionen dominierte, vielleicht ein wenig zu romantisierend geratene Installation, die an die Geister des Windes, der Tiere oder des Feuers erinnert und so den rasanten und dramatischen Wandel der Zeit beklagt: "Wir sind Gejagte."

Entspannter der Zugang des Niederländers Hermann de Vries, der lediglich das abbildet, was da direkt vor unseren Füßen ist. Sein Museum der Erden – aus dem in Venedig ein Teil zu sehen ist – besteht aus insgesamt 8000 auf Papier zerriebenen Proben: ein erstaunliches Farbspektrum. Oder er sammelte alle 473 Pflanzen eines winzigen Wiesenstücks, denn de Vries legt Archive der Natur an. Und es schaudert einem, denn Archive bergen immer auch Aspekt des Verlustes; so wie jenen der Sprache indigener Minderheiten in Lateinamerika. Eine berührende Kollektion, ein Gedächtnis dieser bedrohten Zungen hat Kurator Alfons Hug in dem von ihm kuratierten Pavillon im Arsenale anlegen lassen.

Ein weiterer starker Beitrag dort ist jener von Singapur, wo Charles Lim Yi Young das Motiv des Urbanen und der Grenzen aufgreift. Die Zukunft des Inselstaats ist tatsächlich auf Sand gebaut, denn man ringt das Land dem Meer ab; imaginäre und reale Grenzen verlaufen daher vollkommen unterschiedlich. Das Urbane ist ebenso wie das Hinterfragen von Nationalstaaten eines der leiseren Motive dieser Biennale. Lauter bemerkbar machen sich Themen wie die Huldigung von Arbeit und Handwerk, die verfahrenen Wege des Kapitals, Migration, das Sammeln und Archivieren von Dingen, die im Verschwinden begriffen sind und die bereits erwähnte bedrohte Natur.

Ein möglicher Kandidat für den Goldenen Löwen könnte heuer allerdings Belgien sein, dessen künstlerische Beiträge sich in formal präziser, ausgereifter Form der Zeit der kolonialen Moderne widmen. Die Entschädigung und Anerkennung der Opfer von Kolonialverbrechen ist ein brisantes Feld, das Historiker und Politiker noch einige Jahre beschäftigen wird. Sich den marginalisierten Aspekten dieser Geschichte der Missverhältnisse aufzuarbeiten, um sie zu überwinden, ist also höchst aktuell.

Als eine von neun Künstlern und Künstlerinnen (Kuratorin: Katerina Gregos) zeigt im belgischen Pavillon (im übrigen der erste Nationalpavillon, der in den Giardini errichtet wurde) Maryam Jafri Fotodokumente von Unabhängigkeitserklärungen in Ländern wie Ghana, Mosambik, Kenia und Kongo. Solche Bilder des öffentlichen Gedächntisses, führt sie vor, wurden von Medien und Bildagenturen manipuliert. Sammy Baloji zeigt hingegen Luftaufnahmen der Stadt Lubumbashi in Kongo auf denen der "Cordon sanitaire" ersichtlich ist: eine 500 Meter breite, unbebaute Zone, um schwarze und weiße Wohngebiete voneinander zu trennen. Die Distanz entspricht genau der Flugreichweite der Malaria übertragenden Moskito. (Anne Katrin Feßler 8.5.2015)