Punker mit Lernschwierigkeiten: Pertti Kurikan Nimipäivät treten für Finnland an.

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Polen schickt die Sängerin Monika Kuszyńska. Sie sitzt im Rollstuhl.

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Martin Ladstätters Favoriten sind die Finnen: "Ich sehe die Teilnahme der vier Punker als wirklich positiv, einfach weil sie sich selbst sind, authentisch sind, einfach das tun, was sie tun wollen."

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Delil Yilmaz und Sandra Schügerl arbeiten daran, dass die Songs erstmals in "International Sign" für Gehörlose übersetzt werden.

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"Schreib dann bitte 'Menschen mit Lernschwierigkeiten'", sagt mir Martin Ladstätter, als ich mit ihm über den diesjährigen finnischen Beitrag zum Eurovision Song Contest sprechen möchte. Er ist Gründungsmitglied des ersten österreichischen Zentrums für Selbstbestimmtes Leben (Bizeps), Redakteur der Publikationen des Vereins, im Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern tätig, Mitglied des unabhängigen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie Mitglied des Menschenrechtsbeirates der Volksanwaltschaft.

Ladstätter ist sehr aktiv und umtriebig, wenn es um die Forderung nach selbstbestimmtem Leben von Menschen mit Behinderungen geht. Also gut, lerne ich dazu und schämte mich etwas, dass ich das gar nicht so genau wusste: Menschen mit geistiger Behinderung sagt und schreibt man also besser nicht.

Die Feier der Vielfalt. Ein Rückblick

Die Vielfalt Europas zu feiern war immer schon Grundintention des Eurovision Song Contests. Immerhin erfand man den Bewerb zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Da war die Idee, dass die Länder Europas gemeinsam singen, eine doch bahnbrechende, denn noch wenige Jahre davor hatte man aufeinander geschossen. Man wollte die Vielfalt der Musikstile, der Chansons und der Sprachen feiern. Kein Wunder, dass der allererste Song-Contest-Beitrag 1956 "De vogels van Holland" hieß und Lokalkolorit internationalisieren wollte.

Schon bald gesellten sich neue Aspekte der Vielfalt hinzu: 1962 sang Conny Froboess über das Leben und Schicksal von Migranten ("Zwei kleine Italiener", 6. Platz). 1963, 18 Jahre und zwei Monate nach der Befreiung von Auschwitz, schickten Österreich und die Schweiz israelische Sängerinnen zum Song Contest (Carmela Corren, 7. Platz und Esther Ofarim, 2. Platz). 1966 war die Niederländerin Milly Scott die erste farbige Sängerin auf der Eurovisionsbühne ("Fernando en Filippo", 15. Platz), 1972 thematisierte Katja Ebstein mit "Diese Welt" die aufkeimende Umweltbewegung (3. Platz), die Friedensbewegung gegen das nukleare Aufrüsten konnte 1982 sowohl den ersten Platz (Nicole mit "Ein bisschen Frieden") als auch den den letzten Platz (Kojo mit "Nuku Pommiin") für sich beanspruchen.

Wann das Thema der Emanzipation und Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen und Transgendern begann, bleibt diffus: Die einen sagen 1961 mit dem Siegerlied "Nous les amoureux" (Jean-Claude Pascal), andere sagen mit dem Isländer Paul Oscar 1997, für andere wiegt der Sieg von Dana International für Israel 1998 schwerer. Und dann war da noch Conchita 2014.

2015 – das Jahr der Menschen mit Behinderungen

2015 dürfte das Jahr der Menschen mit Behinderungen sein. Polen schickt mit Monika Kuszyńska eine Sängerin im Rollstuhl, Finnland mit der Punk-Gruppe Pertti Kurikan Nimipäivät Menschen mit Lernschwierigkeiten. Beide sind nicht die ersten Menschen mit Behinderungen auf der Song-Contest-Bühne. 1996 war es Österreich, das den blinden Sänger George Nussbaumer teilnehmen ließ ("Weil’s d’r guat got", 10. Platz), gefolgt von den ebenso blinden Sängerinnen Corinna May für Deutschland 2002 (21. Platz) und Diana Gurtskaya für Georgien 2008 (11. Platz).

"An blinde Sänger und Sängerinnen hat man sich im Pop-Business gewöhnt", sagt Ladstätter und denkt etwa an Stevie Wonder und José Feliciano. Sängerinnen im Rollstuhl oder Punker mit Down-Syndrom sind jedoch außergewöhnlich. "Die Finnen sind wirklich outstanding, obwohl es doch eigentlich normal sein sollte. Ich sehe die Teilnahme der vier Punker als wirklich positiv, einfach weil sie sich selbst sind, authentisch sind, einfach das tun, was sie tun wollen." Und genau hier sieht Ladstätter auch einen Unterschied zum polnischen Beitrag, der seiner Meinung nach "etwas bemüht inszeniert wirkt, teilweise als ob man die Behinderung verstecken möchte" – zumindest im Video.

Die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen auf der Song-Contest-Bühne sieht Ladstätter vorwiegend, aber nicht nur positiv. Die negative Seite: "Die Gefahr ist groß, dass Menschen mit Behinderungen zur Schau gestellt werden, einen Art Freak-Faktor mitbringen." Wichtiger sei jedoch, dass man überhaupt wahrgenommen wird: "Diese Chance gilt es jetzt zu nützen, denn Teilhabe ist der Schlüssel. Das gilt für Menschen mit Behinderung gleichermaßen wie für Lesben, Schwule und Transgender oder im Kampf gegen Rassismus. Das sind allesamt verwandte Themen."

Song Contest für Gehörlose

Erstmals in der 60-jährigen Geschichte des Eurovision Song Contests wird die größte Show der Welt auch Gehörlose inkludieren. "Jedes Lied in beiden Semifinale und im Finale wird in 'International Sign' dargestellt und übersetzt", erzählt Delil Yilmaz, Projektteamleiter im ORF, der die Geschichten zu den Songs gemeinsam mit den gehörlosen Dolmetschern Sandra Schügerl und Georg Marsh entwickelt hat und die von sieben Performern (wie Yilmaz sie lieber nennt) dargestellt werden. "Eine klassische Übersetzung sei es nicht", so Yilmaz, eher erzählt man die Geschichte der Songs anhand der Klänge und der Texte.

Wie man sich das vorstellen kann? "Wenn wir 'und nun spielt eine Geige' erzählen würden, wäre das uninteressant, da ist der Klang viel wichtiger. Also wenn ein Instrumental-Intro traurig ist, wird auch unsere Geschichte traurig sein. Hörende wiederum finden die Wiederholungen von Refrains großartig, das können wir jedoch nicht machen, also arbeiten wir mit Steigerungen und Rhythmik." Seit acht Monaten arbeitet das Team nun schon an der Darstellung der Songs. Gezeigt werden sie online in der ORF-TVthek, das Finale zusätzlich im Sender ORF 2 Europa, wobei die Moderation beim Event live gedolmetscht wird. Für Yilmaz ist das Projekt bahnbrechend und er hofft sehr, dass die Inklusion, die über Barrierefreiheit hinausgehe, zum Standard zukünftiger Song Contests wird.

Ein Vote für Finnland

Ladstätter frage ich dann noch, ob er solidarisch für den finnischen Beitrag abstimmen wird, oder doch lieber für den Song, der ihm am besten gefällt? Er gibt zu, dass er sich jetzt widersprechen wird: "Die Finnen sollen gewinnen, weil sie die besten sind und nicht aufgrund ihrer Behinderung. Ich werde trotzdem solidarisch für sie stimmen", sagt er, lacht dabei und hofft einfach, dass der Eurovision Song Contest 2015 nachhaltig verändern wird. (Marco Schreuder, 12.5.2015)