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"Die Idee, etwas Neues zu schaffen, besitzt für mich eine ungebrochene Faszination" – Mittwochabend erlebt der vielseitige Kinoliebhaber Pierre Lescure erstmals als Präsident die Eröffnung der Filmfestspiele.

Foto: EPA / Etienne Laurent

STANDARD: Wenn man Ihren Namen in Suchmaschinen eingibt, taucht gleich nach Wikipedia die französische Regenbogenpresse auf. Ihr Leben als ehemaliger Partner von Catherine Deneuve und Nathalie Baye hat einen eminent mondänen Aspekt.

Pierre Lescure: Es gab zweifellos Zeiten in meinem Leben, die etwas für diese Blätter hergaben. Das ist aber nicht essenziell. Warum fragen Sie danach?

STANDARD: Weil es einen interessanten Artikel von André Bazin über die Doppeldeutigkeit Ihres neuen Arbeitsplatzes gibt: Einerseits ist Cannes Glamour-Hochburg, Journalisten erleben es aber als Kloster. Welche Seite haben Sie bisher besser kennengelernt?

Lescure: Meine ersten Erinnerungen stammen aus Wochenschauen, die ich als Kind im Kino sah. Meist waren da Stars zu sehen, die in Nizza landeten und von Reportern umringt wurden. Ich las auch Zeitschriften wie Cinémonde, die zuweilen einen Blick hinter die Kulissen warfen. Meine erste professionelle Begegnung fand 1977 statt. Damals arbeitete ich für den Radiosender Europe 1 und machte mit dem Sänger Eddy Mitchell und dem Schauspieler Jean-Claude Brialy eine tägliche zweistündige Livesendung. Damals war Radio fast noch wichtiger als Fernsehen. Man verdiente auch besser.

STANDARD: In dieser Zeit fing auch Ihr Vorgänger Gilles Jacob an.

Lescure: Das waren große Zeiten. Apocalypse Now, Die Blechtrommel und Manhattan feierten Premiere, ich sah meinen ersten Terrence-Malick-Film, Days of Heaven, der unseren Blick auf amerikanische Landschaften total veränderte. Ich weiß noch, wie heftig wir über seinen Einsatz von Totalen und Off-Kommentar debattierten! Ich bekam unmittelbar mit, wie Gilles seine Vision vom Festival verwirklichte, es reformierte, erweiterte. Unser Verhältnis wurde über die Jahre sehr eng. Als ich Programmchef von Canal plus war, bot er mir eine Partnerschaft an, denn der Sender wurde schnell wichtig bei der Finanzierung des französischen, europäischen und mediterranen Kinos.

STANDARD: Welche programmatischen Neuerungen werden Sie auf den Weg bringen?

Lescure: Mit dem Luxuskonzern Kering beispielsweise haben wir einen neuen Sponsor gefunden, der bereit ist, sein Engagement auch inhaltlich stärker zu profilieren. Wir haben ein Programm ins Leben gerufen, das "Women in motion" heißt. Das wird eine Art tagtäglicher Master-Class, bei der Regisseurinnen, Produzentinnen und andere Künstlerinnen über ihre Rolle im Filmgeschäft und ihre Arbeit diskutieren.

STANDARD: Ist das nicht eher eine kosmetische Korrektur, um die Kritik über die notorisch geringe Frauenquote zu beschwichtigen?

Lescure: Die Parität ist wichtig. Darüber diskutieren Thierry Frémaux (Generaldelegierter, Anm.) und ich ständig. Ich glaube, mit dieser Initiative lässt sich da ein seriöses Zeichen setzen. Sie ist keine charmante Geste, sie heißt ja nicht "Vive les femmes!". Der Titel spricht von Bewegung.

STANDARD: Wie groß ist darüber hinaus Ihre Handhabe, das Festival zu prägen? Anderswo kennt man die Teilung in Festivalpräsident und Generaldelegierter nicht. Ich stelle mir vor, Ihre Aufgabe ist vor allem eine diplomatische.

Lescure: Es ist, wenn Sie so wollen, eine politische Funktion. Ich muss mich mit den Behörden auseinandersetzen. Ich muss mit unseren Partnern im Ausland im Gespräch bleiben. China wird immer wichtiger, aber auch der Dialog mit den USA muss aufrechterhalten werden: Ich will, dass jedes Jahr mindestens zwei Studios mit Filmen präsent sind. Ich muss Kontakt mit anderen Festivals halten, auch mit den Oscars. Und ich trage die wirtschaftliche Verantwortung. Selbst wenn ich wollte, hätte ich gar keine Zeit, mich in die Filmauswahl einzumischen. Das ist allein Thierrys Bereich. Vielleicht spreche ich ein Wort bei der Besetzung der Jurys mit.

STANDARD: Historisch hielt Cannes, zumal während des Kalten Krieges, ein Gleichgewicht zwischen Ost und West. Diese Polarität existiert so nicht mehr. Sie erwähnten China. Worin liegt dessen Bedeutung?

Lescure: Russland hat momentan ungemein an Gewicht verloren, denn das Autorenkino wird dort nicht mehr unterstützt. China hingegen ist ein boomender Markt. Zwar übt der Staat starke künstlerische und wirtschaftliche Kontrolle aus. Trotzdem kommen enorme künstlerische Impulse von dort, etliche Regisseure leisten große Beiträge zum Weltkino Und in China entstehen derzeit die meisten Kinosäle. Die Investorengruppe Wanda eröffnet monatlich zwei neue Multiplexe. Sie hat unlängst die zweitgrößte Kinokette der USA gekauft, augenblicklich stehen sie in Verhandlung mit Odeon in England. Nur Frankreich hat ihnen bislang widerstanden, weil Gaumont und Pathé praktisch Familienunternehmen sind. Darauf müssen wir reagieren. Vielleicht können wir unser Savoir-faire anbieten für deren Festival.

STANDARD: Ihr Werdegang ist dennoch einzigartig. Dessen einzige Konstante ist der Registerwechsel. Sie haben zeitweilig sogar ein Theater, das Marigny, geleitet.

Lescure: Es stimmt schon: Ich bin 69 Jahre alt und sollte allmählich aufhören, Praktikant zu sein. Ich stamme aus einer Familie von Journalisten, die mich lehrte, neugierig zu sein. Ich selbst habe den Beruf gelernt, als ich meinen Vater nach der Schule im Büro besuchte. Er war damals Chefredakteur von L'Humanité, deren Auflage seinerzeit bei 700.000 Exemplaren lag. Vergessen Sie nicht, dass die Kommunisten nach dem Krieg in Frankreich ein Viertel der Wählerstimmen errangen!

STANDARD: Die große Karriere haben Sie dann aber bei Rundfunk und Fernsehen gemacht.

Lescure: Ich habe mich in allen Bereichen getummelt, war Journalist, Redakteur und Moderator. Bevor ich 1983 bei Canal plus einstieg, war ich Nachrichtenchef beim Zweiten Kanal, der größten TV-Redaktion in Frankreich. Ich sah meine Rolle vor allem als Teilchenbeschleuniger, der Talente entdeckt und ihnen ermöglicht, ihr Potenzial auszuschöpfen. Deshalb habe ich sofort zugesagt, als ein Jahr vor Sendebeginn das Angebot kam, den ersten Bezahlsender Europas aufzubauen.

STANDARD: War es Notwendigkeit oder expliziter Wille, dass Canal plus durch den Vorkauf von Filmen zu deren Co-Produzent wurde?

Lescure: Das war eine strategische Entscheidung, die meiner Kinobegeisterung entsprach. Wenn wir von den Zuschauern schon Geld verlangten, mussten wir ihnen eine große Vielfalt bieten können. Sie hatten ein Anrecht auf die ganze Bandbreite vom Autorenfilm bis zum populären Kino. Wir investierten, um die Vielfalt noch zu vergrößern. (Gerhard Midding, 12.5.2015)