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Jeder, der in Österreich Bücher schreibt, ist schon einmal über Helmuth Schönauer gestolpert, weil dieser quirlige Tiroler Bibliothekar so gut wie alles, was hierzulande in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, nicht nur gelesen, sondern auch noch rezensiert hat. Dieser Mann mit einem ganzen Bataillon an Schalken in den Augen und einer Zunge, die schneller als ihr Schatten ist, hat sich eine Trutzburg aus Literatur erschaffen, er ist seine eigene Bibliothek.

Helmuth Schönauer hat den Tiroler Bergen sein eigenes widerständiges Häufchen entgegengesetzt, ein Zentralmassiv an Texten über Literatur, die selbst schon wieder Literatur sind. Dabei ist Helmuth Schönauer kein grauer Büchermensch, sondern ein widerborstiger streitlustiger Charakter, ein großer Umrührer vor dem Herrn, der mit beiden Beinen fest und humorig im Leben steht.

Dass seine gesammelten Rezensionen nun erscheinen, ist ein mutiges, ein aberwitziges Unterfangen, und man stellt sich zuerst die Frage, wer um Himmels willen soll denn das lesen? Und warum? Wer soll über Bücher lesen, deren Autoren längst vergessen sind, deren Verlage oft schon lang nicht mehr existieren? Da kommen Schriftsteller vor, von denen man wahrscheinlich noch nie etwas gehört hat: Wilhelm Pellert, Markus Peters, Othmar J. Gschwentner, Rosmarie Thüminger. Namen, die teilweise wie ausgedacht klingen. Aber daneben gibt es auch bekannte Gipfel wie Trakl, Duras, Kaser, Kirchhoff, Kundera, Llosa, Böll, Dorst, Laederach, Arenas und viele andere.

Die gesammelten Rezensionen Schönauers bilden einen schönen Überblick über die literarischen Erscheinungen der letzten vierzig Jahre und sind somit eine sehr spezielle, aber notwendige Kulturgeschichte. Nachrichten aus der Welt der Literatur - mit einem sehr verlässlichen Bergführer.

Ist Schönauer in seinen früheren Begehungen schnell an sein Ziel gekommen, ja manchmal geradezu gehetzt, bestanden die Besprechungen oft aus nicht viel mehr als einer Inhaltsangabe, die mit einem Einleitungssatz und einer kurzen Conclusio eingefasst waren, so hat er sich in den letzten Jahren zusehends mehr Zeit gelassen, verweilt er immer öfter, um das Panorama mit seiner Sicht der Dinge zu erweitern.

Helmuth Schönauer ist ein unbestechlicher Leser, der sich nicht scheut, seine Meinung direkt wiederzugeben. Da ist schon einmal von hinterfotziger Literatur die Rede, in der viel geschumpfen wird. Über Martin Suter heißt es: irgendwie ein Konsumtrottel-Kritik-Roman. Mayröcker-Texte vertragen kein Hudeln, und Lyrik wird als etwas definiert, das am Zeilenende ausgefranst ist und wo ein Mond vorkommt.

Es sind genau solche kleinen Konzentrate, in denen Schönauer ganze Literaturtheorien auf einen Satz bringt, die das Lesen dieser Besprechungen zu einem Vergnügen machen. Argentinien wird als stubenreine Diktatur bezeichnet, Mobbing, heißt es, ist so etwas wie Glück, nur verkehrt herum, und auch mit Rezepten gegen die grassierende Krimitis wird nicht gespart. Schönauer nähert sich den Büchern mit Respekt, weiß sowohl der spröden experimentellen Literatur etwas abzugewinnen als auch gängigen Pageturnern.

Er will nicht eine Schreibweise gegen eine andere ausspielen, verfolgt keine Betriebsnudel-Strategie, sondern hat sich den unverstellten Blick auf alles bewahrt. Fast sämtliche der vorkommenden Bücher, und es sind immerhin mehr als 4000, werden grundsätzlich respektvoll behandelt.

Ich habe überhaupt nur zwei Ausnahmen gefunden, obwohl es wahrscheinlich ein paar mehr sein werden, einmal einen schnell zusammengeschusterten Band der damaligen Bachmannpreisträgerin Erika Pedretti, wo sich Schönauers Ausfälle auch weniger gegen die Autorin als mehr gegen die Vermarktungsmechanismen und Ausquetschmethoden des Literaturbetriebs richten, und zum anderen einen halblustigen Otto Grünmandl, über den der humorbegabte Bibliothekar einmal nicht lachen konnte.

Taucht man ein in dieses Meer an Lektüreerlebnissen, stößt man immer wieder auf entschwundene und gestrandete Autoren, auf längst versunkene Lebensverhältnisse, so erinnert man sich etwa an die zu Unrecht vergessene DDR-Literatur, auch der ehemals so beliebten südamerikanischen Literatur wird viel Raum gewidmet, und daneben hat man immer wieder die Verortung der großen Welt in Tirol.

Schönauers Leistung besteht in der Reduktion, er beschwert den Leser nicht mit germanistischem Ballast, muss sich nicht mit angelesener Belehrtheit aufpudeln, sondern besticht mit Kürze, Prägnanz und Ehrlichkeit, scheut nicht vor Urteilen wie "Die Geschichte ist watscheneinfach" oder Formulierungen à la "Der Roman ist zu Ende" zurück.

So wird hier eine äußerst hilfreiche Vermessung literarischer Erhebungen der letzten Jahrhunderthälfte vorgelegt, die jedem Leser sowohl viel Freude als auch Lust auf Literatur bringen sollte. Irgendwie gilt für dieses Monsterprojekt der von Schönauer formulierte Satz "So blöd kann etwas gar nicht sein, dass es nicht sein könnte", ist es doch in etwa so abwegig, wie der Versuch, den Himalaya, von dem es irgendwo heißt, er trete in manchen Teilen Tirols als Übervater auf, abzutragen, um ihn in Tirol wieder aufzubauen.

Es ist ein geradezu größenwahnsinniges Unterfangen, das den vor Ehrfurcht gebückten Leser vor unüberwindliche Aufgaben stellt, handelt es sich doch beim vorliegenden Werk um nichts weniger als um das erste Lexikon der Welt bestehend aus Buchbesprechungen. Aber, keine falsche Scham, trauen Sie sich hinein in dieses Zentralmassiv aus Literatur, lassen Sie sich von Helmuth Schönauer führen, und Sie werden nicht nur aufgerichtet, sondern auch aufrichtig belohnt. (Franzobel, Album, 15.5.2015)