Colin Farrell begeistert im bizarren Festivalbeitrag "The Lobster" als David (im Bild mit Rachel Weisz), einer für ihn wenig typischen Rolle.

Foto: Cannes Film Festival

Es war die Idee der Surrealisten, die Welt auf den Kopf zu stellen, um dadurch deren Defizite anschaulicher zu machen. In einer berühmten Szene aus Luis Buñuels Das Gespenst der Freiheit wird das gesellschaftliche Ritual des Essens einmal anders ausgetragen: Die Herrschaften ziehen sich Kleider hoch und Hosen herunter, um auf Toilettensitzen Platz zu nehmen. Zum Verzehr von Speisen zieht man sich dagegen aufs stille Örtchen zurück.

An solche Verkehrungen fühlt man sich in The Lobster, dem ersten Highlight im Wettbewerb von Cannes, bald einmal erinnert. Regisseur Yorgos Lanthimos entwirft eine Parallelwelt, die strengem Regelwerk folgt. Wer in dieser bei der Partnersuche übrig geblieben ist, wird zu einem 45-tägigen Kuraufenthalt verpflichtet, um dort den Lebensmenschen zu finden.

Gelingt dies nicht rechtzeitig, droht eine drastische Maßnahme: Man wird in ein Tier verwandelt - immerhin darf man die Art frei wählen. David, der Protagonist des Films, entscheidet sich für einen Hummer. Der in sich gekehrte, etwa abwesend wirkende Mann mit Schmerbauch liebt das Meer und scheint sich schon danach zu sehnen. Colin Farrell spielt diesen Durchschnittsmann, eine ungewöhnlich unscheinbare Rolle für den Iren, in der er umso mehr zu begeistern vermag.

Nischen der Gesellschaft

Lanthimos hat bereits in früheren Filmen wie Dogtooth und Alpis merkwürdig abgeschlossene Nischen in der Gesellschaft erschlossen. The Lobster, die erste internationale Produktion des Griechen, setzt dies in einem trocken-nüchternen Tonfall fort. Die Originalität des bizarren Verkupplungsszenarios liegt darin, dass er es an einem höchst liebesfeindlichen Ort ansiedelt, wo geteilte Schwächen wie eine Gehbehinderung oder Nasenbluten bereits Zusammengehörigkeit zwischen Mann und Frau stiften sollen. Die beträchtliche Komik resultiert aus der Selbstverständlichkeit, mit der sich die meisten diesem Regime unterwerfen, während es ein paar wenige auszutricksen versuchen. David versucht sich etwa mit einer gefühlskalten Frau einzulassen und muss dafür selbst einen Eisblock mimen.

Lanthimos belässt es jedoch nicht bei einem Schauplatz, sondern malt sich im zweiten Teil eine der Zweisamkeitsdiktatur entgegengesetzte Ordnung aus. Im angrenzenden Wald leben, angeführt von einer resoluten jungen Frau (Léa Seydoux), die "Loners": Singles, denen jede romantische, gar sexuelle Neigung verboten ist. Mit diesem Gegenentwurf, der die strukturelle Ähnlichkeit beider Regime offenlegt, gewinnt The Lobster noch größere Tiefe und Brisanz. Gerade dort, wo es verboten ist, erzählt er mit Zärtlichkeit von einer im Stillen, mit viel Erfindungsgeist wachsenden Liebe.

Auf biografisch eingefärbten Pfaden geht der neue Film von Arnaud Desplechin, Trois Souvenirs des ma Jeunesse (My Golden Days) auch romantischen Verwicklungen nach. Der Franzose kehrt zur Figur Paul Dédalus' (Mathieu Amalric) zurück, die ihn schon in Comment je me suis disputé ... (Ma vie sexuelle) vor 19 Jahren beschäftigt hat. Allerdings nicht als Fortsetzung, sondern als Rückblick auf eine bewegte Kindheit im nordfranzösischen Roubaix in den 1980er-Jahren.

Als Erwachsener kommt Dédalus diesmal nur in einer Rahmenhandlung vor. Desplechin beginnt mit einer skizzenhaften Erinnerung an seine kranke Mutter, begleitet den schon etwas älteren Jungen zu einer Spritztour nach Minsk, um sich schließlich auf Pauls (Quetin Dolmaire) große Jugendliebe Esther (Lou Roy-Lecollinet) am ausgiebigsten einzulassen. Desplechins große Qualität bleibt auch in diesem Film eine Musikalität des Erzählens, die eine Vielzahl an Zwischentönen, Nuancen und ungewöhnlichen Phrasierungen erlaubt. Eine ganze Party zu inszenieren, bei der das zentrale Paar nur über verstohlene Blicke kommuniziert, so etwas macht ihm so schnell niemand nach. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 16.5.2015)