Mazedonienreisende fanden sich bis vor zehn Jahren in einer Enklave der Zivilität wieder, zumindest griffen die unsympathischeren der Balkanstereotype hier weniger als sonst wo. Das lässt sich aus der Geschichte und dem multiethnischen Gefüge der mazedonischen Gesellschaft erklären, das eine Praxis des Ausgleichs erfordert.

Vorzüge, wie geschaffen dafür, endlich ruiniert zu werden. Die übliche postsozialistische Mischung aus Nationalismus, Pauperisierung, Primitivkultur und Raubtierkapitalismus zerstörte auch Mazedoniens ideellen Standortvorteil. Albanischer Irredentismus, bulgarischer Chauvinismus, der slawische Mazedonier mit EU-Pässen beschenkte, sowie die lächerliche Blockadepolitik Griechenlands, das jene antiken Makedonen für sich beansprucht, die von den antiken Griechen als Barbaren verachtet wurden, auf der einen, Braindrain und innere Immigration auf der anderen Seite taten das ihre dazu.

Adelheid Wölfl hat wohl recht, wenn sie in ihrer Analyse (der STANDARD, 15. Mai) vermutet, was die meisten Mazedonier wissen: dass der Anti-Terror-Einsatz von Kumanovo ein Ablenkungsmanöver der Regierung war. Unrecht hat sie mit ihrem Vergleich dieser brutalen Farce mit dem UÇK-Krieg 2001: "Die Propaganda kann nicht mehr so reibungslos funktionieren wie noch 2001, als es zum bewaffneten Aufstand der Albaner kam."

Die Gräuelgeschichten über die von der UÇK in Vejce bei lebendigem Leibe verbrannten und zu Tode gefolterten Reservisten entstammten nicht der Regierungspropaganda, sondern OSZE-Berichten, und der "Aufstand der Albaner" war von einem Großteil der mazedonischen Albaner missbilligt worden. Der damalige Präsident Boris Trajkovski hatte, als im Jänner 2001 UÇK-Banden begonnen hatten, albanische Dörfer zu drangsalieren und Polizeiposten zu überfallen, vorsorglich internationale Beobachter eingeladen, diesen Konflikt ins rechte Licht zu rücken. Aus gutem Grund: Bereits 1999, als Mazedonien trotz Armut und mit nur spärlicher internationaler Hilfe abertausende Flüchtlinge aus dem Kosovo aufnahm, hatten westliche Medien gierig darauf gewartet, dass ein neues slawisch-orthodoxes Killervolk sich an albanischen Opfern verginge.

14 Jahre später teilen sich ethnische Parteien wie jene des Ex-UÇK-Führers Ali Ahmeti und der regierenden VMRO-DPMNE die politische Agenda: Menschen von Staatsbürgern in Stammesangehörige mit unvereinbaren Interessen zu verwandeln, sozialen Widerstand zu neutralisieren, einander ausbalancierende Identitäten in antagonistische zu verwandeln, von Umverteilung nicht nur abzulenken, sondern Unmut darüber gegen ethnisch definierte Feinde zu kanalisieren. Das ist nicht nur "Balkan- Business-as-usual".

Wer meint, die Inszenierung eines Bürgerkriegs sei als politisches Mittel zu billig, der schaue sich nur die kommunale Identitätsarchitektur von Premier Nikola Gruevski an, um zu wissen, dass dieser Regierung nichts zu billig ist: Der aparte Hauptplatz Plostad Makedonija wurde mit Statuen und Triumphbögen verschandelt, die mal aussehen wie Requisiten für Antikpornos, mal wie vergrößerte Baumarktstatuetten. Alles überragend: die Siegesstele mit Colin Farrell als Alexander dem Großen hoch zu Ross. Die osmanische Brücke Kamen most, einst stolzer Blickfang, duckt sich verschämt über den Vardar, auf dessen anderem Ufer neue Regierungsgebäude und Theater prangen, gegen die sich Ceasar's Palace in Las Vegas wie ein Meisterwerk des Neoklassizismus ausnimmt. Millionen haben diese Investitionen in den Wettbewerb "Lächerlichste Nation der Welt" gekostet, Millionen wird ihre Planierung einst kosten.

Woher die Regierung die hatte? Vielleicht aus der Privatisierung des Energiesektors. Den kalten Zugwind der freien Marktwirtschaft spürten die Bewohner der Romaviertel Sutka und Topana erstmals im frostigen Jahrhundertwinter 2012/13. Der staatliche Energieversorger ESN hatte bei Stromschulden stets mit sich reden lassen. Die niederösterreichische EVN, die ESN um 225 Millionen gekauft hatte, drehte den säumigen Roma den Strom ab.

Wo war die westliche Kritik?

So sehr sich Gruevski und seine Clique neuerdings an Wladimir Putin halten mögen, seine Methoden entsprechen ganz dem westlichen Wertekatalog. Wo aber war die kritische Berichterstattung, als er noch unser Mann war - und mithilfe deutscher, niederländischer und vor allem österreichischer Konzerne, Banken und Versicherungsgesellschaften die jugoslawische Konkursmasse in "westliche Werte" verwandelte? Regierte er da weniger autokratisch?

Gruevski hat gute Gründe, das Gespenst UÇK wiedererstehen zu lassen: Denn was niemand mehr erwartet hatte, trat im mazedonischen Frühling ein. Die Knospen einer Zivilgesellschaft trieben aus, und zwar aus verdorrten Zweigen, den Schülern und Studierenden. Und daran gebrechen auch Wölfls Maidan-Vergleiche. Der neu erwachte Widerstand verteidigt keine prowestliche gegen eine prorussische Agenda. Keinen bewaffneten faschistischen Block hat er in seinen Reihen. Er tritt für ein multikulturelles gegen ein nationalistisches Mazedonien ein und würde das auch tun, wenn sich Gruevski keine russische Pipeline, sondern nach wie vor westliche Klistiere geben ließe.

Wölfls Analyse insinuiert, erst Nähe oder Distanz zu Putin gäbe letzte Sicherheit in der moralischen Einschätzung der Lage, und hört dadurch auf, Analyse zu sein. Das trägt weniger zur Erhellung eines Konflikts bei als zu seiner Simplifizierung zum medial obligaten Manichäismus von Licht und Schatten, von gendergerechtem Westen und rasputinierendem Osten.

Aber wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, solange es Schülerinnen und Aktivistinnen wie Evgenija Janakievska gibt: "Ihr habt versucht, uns zu apathischen Adoleszenten zu formen, zu Teilchen der gesellschaftliche Lethargie. Zu servilen Konformisten habt ihr uns zu erziehen versucht, die eurer Heuchelei Applaus schenken." Solche Schülerinnen würde man sich auch in Moskau, Wien und Washington wünschen. Und - träumen wird man dürfen - als Volontärinnen beim Standard. (Richard Schuberth, 19.5.2015)