Lydia Davis: Freut sich über Preise und gute Kritiken, weiß aber um die Gefahr, dass man selbstgenügsam wird.

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STANDARD: Sie haben als siebenjähriges Mädchen einige Monate in Österreich gelebt. Wie sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?

Lydia Davis: Sehr intensiv. Zu Weihnachten waren wir in Graz, das ist mir unvergesslich. Später wohnten wir in Innsbruck und Salzburg, im Schloss Leopoldskron. Insgesamt habe ich fast ein ganzes Jahr in Österreich gelebt.

STANDARD: Und jetzt erscheinen die deutschen Übersetzungen Ihrer Bücher bei einem Grazer Verlag ...

Davis: Ja, das ist ein schöner Zufall. Als ich zuletzt in Graz gelesen habe, war ich im Parkhotel untergebracht, also in jenem Hotel, in dem ich als Siebenjährige gewohnt habe. Ich hatte ein eigenes Zimmer und weiß noch genau, wie ich jeden Tag allein aufgestanden bin, mich angezogen habe, und, je nachdem ob ich pünktlich im Frühstücksraum war oder spät dran, habe ich heiße Schokolade mit oder ohne Schlagobers bekommen, bevor mich mein Vater zur Schule gebracht hat.

STANDARD: Und wie halten Sie es heute mit heißer Schokolade?

Davis: Ich liebe sie immer noch, auch wenn sie damals eine größere Bedeutung hatte.

STANDARD: Wiewohl es in Ihren Geschichten oft auch um Nahrungsaufnahme geht ...

Davis: Stimmt, aber das ist keinesfalls einer Leidenschaft von mir geschuldet als vielmehr einer täglichen Notwendigkeit.

STANDARD: In der meistzitierten Geschichte Ihres letzten Erzählbandes geht es um Kühe, die in Sichtweite Ihres Hauses weiden. Kurz nach dem Beginn heißt es über die drei Kühe: "Sie treten hinter dem Stall hervor, als würde gleich etwas passieren, und dann passiert nichts." Macht das große Literatur aus, dass sie davon zu erzählen weiß, was nicht passiert?

Davis: Ich weiß nicht, ob das große Literatur ist, aber ich finde es faszinierend, etwas so lange zu beobachten, bis man meint, es gäbe nichts Neues mehr zu sehen. Aber das ist immer ein Irrtum.

STANDARD: Wie lange haben Sie die Kühe beobachtet?

Davis: Über drei Jahre. Mit Unterbrechungen. (lacht)

STANDARD: Es gibt kaum eine Rezension eines Ihrer Bücher, die ohne einen Verweis auf Kafka auskäme. Wie nahe ist Ihnen Kafka?

Davis: Als ich jung war, habe ich mich sehr intensiv mit seinen Tagebüchern und Briefen beschäftigt. Kafka ist ein wunderbarer Autor, und in gewisser Weise fühle ich mich ihm sehr nahe. Aber das betrifft eher die Empfindung von Welt als die Form des Schreibens.

STANDARD: Sie gelten als exzellente Übersetzerin aus dem Französischen und haben Flaubert und Proust neu ins amerikanische Englisch übertragen. Sind Sie in Ihrem Denken europäisch geprägt?

Davis: Ja und nein. In mir ist viel Europa, aber ich bin auch mit jeder Faser ein Ostküsten-Mensch. Ich war froh, als die US-amerikanische Kritik angefangen hat, meine Bücher in eine zutiefst amerikanische Schreibtradition zu stellen. Davor hieß es manchmal, ich würde wie eine fremdsprachige Autorin klingen, die ins Amerikanische übersetzt worden ist.

STANDARD: Einmal schreiben Sie, dass Sie es lange als Ihr Ziel erachtet hätten, eine Story im "New Yorker" zu veröffentlichen, wo auch Storys Ihrer Eltern abgedruckt worden sind ...

Davis: Ja, das war so. Aber als ich dann die erste Story im New Yorker hatte, war es auch gut damit, die Aufgabe war erfüllt.

STANDARD: Auf der Website des Man-Booker-International-Preises heißt es selbstgewiss, dass der Preis die Wirkmächtigkeit habe, das Schicksal einer Autorin zu beeinflussen; hat der Preis, mit dem Sie 2013 ausgezeichnet wurden, Ihr Leben verändert?

Davis: In gewisser Weise, ja. Es hat die Verkäufe im Ausland angekurbelt, aber ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das nicht auch damit zu tun haben könnte, dass die Leute den Man-Booker-International-Preis (seit 2005, Anm.) mit dem regulären Man-Booker-Preis verwechseln.

STANDARD: Wie wichtig sind Ihnen Preise?

Davis: Ich glaube, sie sind für meine Verleger ungleich wichtiger als für mich. Vor allem kann man sich nicht darauf ausruhen, das Schreiben eines neuen Textes wird dadurch ja nicht leichter, man kann mit einem Text jedes Mal aufs Neue scheitern.

STANDARD: Fürchten Sie sich vor diesem Scheitern?

Davis: Natürlich. Es waren vor allem die Storys von Russell Edson, die mir da sehr geholfen haben. Er selbst hat sie ja Prosagedichte genannt. Auf jeden Fall sind manche genial, aber eben nicht alle, und diese Imperfektion hat mir für das eigene Schreiben sehr viel Mut gemacht.

STANDARD: Heute ermutigen Sie andere. Sie unterrichten seit langem "Kreatives Schreiben".

Davis: Ich nenne es lieber einfach "Schreiben". Die Bezeichnung "Kreatives Schreiben" ist mir immer etwas dümmlich vorgekommen.

STANDARD: In Europa waren Schreibschulen lange Zeit verpönt. Das hat sich geändert. Hat die Schriftstellerei also doch viel mit Handwerk zu tun?

Davis: Inzwischen werden ja fürs Schreiben alle möglichen akademischen Grade inklusive PhD verliehen, das hat natürlich auch etwas Lächerliches. Bestimmt sind viele Techniken erlernbar, aber entscheidend ist etwas anderes.

STANDARD: Nämlich?

Davis: Ich würde es Demut nennen. Ein großes Problem, das ich immer wieder auch in meinen Schreibklassen beobachtet habe, hängt damit zusammen, dass auch und gerade sehr begabte Menschen dazu neigen, mit der Zeit arrogant zu werden, und Arroganz ist das, was die Literatur am allerwenigsten brauchen kann.

STANDARD: Und was bräuchte sie am dringlichsten?

Davis: Dass sie sich nicht von den Anforderungen des Buchmarktes leiten lässt, wiewohl ich dazusagen muss, dass ich dahingehend über die Jahrzehnte viel toleranter geworden bin. Es geht schon in Ordnung, dass Danielle Steel ihr Publikum findet, aber wo immer ich kann, ermuntere ich meine Studierenden, sich von keinerlei Begehrlichkeiten irritieren zu lassen. Es geht in der Literatur letztlich um das Schreiben und sonst nichts.

STANDARD: Also um Form?

Davis: Auch. Aber seit ich die ganz kurze Form für mein Schreiben gefunden habe, fühle ich mich frei für jede Form. Das ist die eigentliche Freiheit, die ich dadurch erlangt habe. Ich bin über diesen Weg der Verknappung zu einer Fülle von Möglichkeiten gelangt, die mir verborgen gewesen sind.

STANDARD: Heißt das, Sie werden auch wieder längere Texte, vielleicht sogar Romane schreiben?

Davis: Das könnte es heißen, aber es heißt genauso, dass ich mich von der Fiktion auch ganz wegbewegen kann.

STANDARD: Kann Literatur also auch ganz ohne Fiktion auskommen?

Davis: Am meisten interessiert mich die Minimalabweichung. Man erzählt eine Geschichte, die man erlebt oder erzählt bekommen hat, verändert aber ein Detail so, dass ein völlig neuer Blick auf die Geschichte möglich wird. Zurzeit arbeite ich mit den Memoiren eines Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert, die ganz wunderbar geschrieben sind.

STANDARD: Wie sieht diese Arbeit aus?

Davis: Ich belasse den Text weitgehend im Original, stelle ihn aber um, bringe ihn in Verse, also mit Zeilenumbrüchen, es wird eine Art Langgedicht. Danach werde ich eine Doppelbiografie zweier weiterer Vorfahren von mir schreiben, eines Hochseekapitäns und seiner Frau, die Storys geschrieben hat.

STANDARD: Ihre Arbeit wird von allen Seiten mit höchstem Lob bedacht. Was bedeutet Ihnen das?

Davis: Natürlich freut mich das bis zu einem gewissen Grad, aber es birgt die große Gefahr, dass man selbstgenügsam wird. Deshalb lese ich immer seltener, was über mich geschrieben wird. Ich will nicht Gefahr laufen, beim Schreiben unbewusst dem Zugeschriebenen entsprechen zu wollen.

STANDARD: Eine dieser Zuschreibungen lautet, dass Ihre Bücher Ihren feinsinnigen Humor bezeugen. Dem stehen Geschichten gegenüber, die dystopisch grundiert sind. Gehen wir auf ein Ende zu?

Davis: Ich glaube schon. Meine Freunde halten mich für viel zu pessimistisch, aber fest steht, dass wir etwas zerstört haben, das uns jahrtausendelang begleitet hat, dass wir in der letzten Phase von etwas sind, das uns unwiederbringlich abhandengekommen ist. Und das ist einfach nur bitter und unendlich traurig. (Josef Bichler, Album, 22.5.2015)