Im Wasser sind alle Menschen gleich. Der King's Cross Pond ist nicht nur der erste künstlich geschaffene Naturteich Großbritanniens, sondern auch eine neue Erfahrung von öffentlichem Freiraum.

Foto: John Sturrock/Kingcombe

Kalt. Verdammt kalt. 14,2 Grad Celsius kalt, um genau zu sein. Und während der gesamte Körper langsam von einer prickelnden Taubheit überzogen wird, drehen sich im Himmel ein Dutzend Baukräne im Kreis, mit an den Haken baumelnden Stahlträgern, Betonfertigteilen und gläsern glitzernden Fassadenelementen. Grüne Grashalme, die wacker dem stürmischen Londoner Sauwetter trotzen, bringen etwas Grün in dieses von Lärm, Staub und Zement durchwühlte Ambiente. Irgendwo dazwischen, quak, hört man im Schilf die Heimat der jüngsten Bewohner.

King's Cross, dieses abgeschnittene, von Gleisen durchzogene Stück Stadt hinter dem gleichnamigen Bahnhof im Norden der Innenstadt, ist eines der größten Stadtentwicklungs- und Stadtverdichtungsgebiete Londons. Wo einst Gasometer, Fabriken und Lagerhallen standen, entsteht nun ein Grätzel mit Kunst und Kultur, mit Universität, Wohnen, Büros und vielen schönen Freiräumen entlang des Regent's Canal. Die Initiative dafür kommt nicht etwa von der öffentlichen Hand, sondern von privaten, gewinnorientierten Investoren, die seit Margaret Thatcher in London das Sagen haben. Auf insgesamt 27 Hektar Fläche toben sie sich mit ihren Projekten aus.

Meisterin des Verstörens

Ein paar Tempi noch. Endlich spürt man wieder seine eigenen Gliedmaßen im Nass. Einer der hier umtriebigsten Immobilienentwickler, die 1981 gegründete Argent LLP, die kurzerhand selbst eine der erst kürzlich von ihr revitalisierten Fabrikshallen in King's Cross bezog, wünschte sich für die Mitte des neuen Stadtquartiers etwas Besonderes und lud die slowenische Künstlerin Marjetica Potrč dazu ein, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Potrč, eine Meisterin des Verstörens, zögerte nicht lange und schlug ihren Auftraggebern einen ökologischen, naturbelassenen Schwimmteich vor. Mitte Mai wurde die feucht-fröhliche Attraktion "Of Soil and Water: King's Cross Pond Club", so der offizielle Titel, eröffnet.

"Ich finde es spannend, die Natur zu inszenieren", sagt die 62-Jährige, die das Projekt gemeinsam mit den Rotterdamer Ooze Architects konzipiert und realisiert hat. "Vor allem hier, in King's Cross mit seinem Kanal und seinen vielen Baustellen, spielen Wasser und Erde eine wichtige Rolle. In gewisser Weise ist dieses Projekt inmitten des Baustellentheaters eine Art leicht erhobene Bühne für die Natur und für die Schwimmer. Das Hauptaugenmerk gilt der Balance und der Koexistenz dieser beiden Protagonisten."

230 Quadratmeter misst das nierenförmige Becken, eine Art rot-weiß gestreift umrandete Bohne inmitten von Baggern und Kränen. Teichrosen, Bachminzen, Wassersterne, Sternmieren, Laichkraut, Wasserkraut, Zyperngras und Tannenwedeln sorgen dafür, dass das Wasser auf natürlichem Wege gefiltert und mit Sauerstoff versorgt wird. Algen, Phytoplankton und diverse andere Mikroorganismen erledigen den Rest. Auf diese Weise kann auf Chlor und chemische Filtration des Wassers gänzlich verzichtet werden.

Vor der Kunst bitte duschen

Klirrend kalt. Das Blut schießt einem durch die Adern. Die Rezeptur für das Bio-Schwimmbecken stammt von Kingcombe Aquacare, dem britischen Partner des österreichischen Unternehmens Biotop. "Das Ökosystem ist sehr fragil", sagt John Colton, Geschäftsführer von Kingcombe. "In gewisser Weise versuchen wir, in diesem künstlichen, mit Recycling-Plastikplanen ausgekleideten Teich die Spielregeln von Mutter Natur nachzuempfinden. Wenn man auch nur einen Bruchteil daran verändert, könnte das gesamte System kippen."

Damit das nicht passiert, ist die Anzahl der Besucher limitiert. "Maximal 40 Menschen im Wasser, mehr geht nicht", sagt Gavin Rooney (33) rotes Baywatch-T-Shirt am Leib, im tiefsten Cockney. Er ist Life-Guard und kümmert sich darum, dass die Dos and Don'ts eingehalten werden. "In einem Museum darf man auch nicht jedes Bild angreifen, wenn einem danach ist, oder? Zu den Benimmregeln für dieses Kunstwerk gehört eben, dass man vor dem Schwimmen duschen muss. Und bitte auch nicht reinpinkeln! Man muss Kunst und Natur ja nicht gleich überfordern."

Schwimmen bei Wind und Wetter

Pro Tag kommen an die 100 bis 120 Schwimmer zum Pond. Auch bei Wind und Wetter wie zu dieser unerbittlichen Stunde. Es stürmt. "Die meisten unserer Besucher sind Businessleute vor Arbeitsbeginn oder in der Mittagspause, Studenten, Pensionisten und abgebrühte Eisbären, die sich vor dem kalten Wasser nicht scheuen", erzählt Gavin. Manchmal kommen auch die Bauarbeiter von nebenan, tauschen für ein paar Minuten Blaumann gegen Badehose. "Und immer öfter haben wir Besuch von den Eurostar-Geschäftsreisenden aus Deutschland und Frankreich, die in St. Pancras ankommen, nur wenige Schritte von hier."

Paul Whitehead ist einer von ihnen. Der 60-Jährige trägt Poloshirt und Sonnenbrille. Voller Optimismus blickt er in die dunkelgrauen Wolken hoch. "Ich wohne an der Küste und bin 365 Tage im Jahr im Meer", sagt er. Das sei gut fürs Immunsystem. "Jetzt habe ich endlich auch in London die Möglichkeit, meinem täglichen Ritual nachzugehen. Ich finde den King's Cross Pond großartig. Das ist eine für London ganz neue Outdoor-Kultur, die hoffentlich noch viele Nachahmer finden wird." Und er verschwindet in der rot-weiß gestreiften Umkleidekabine.

Die nackte Demokratie

Der King's Cross Pond ist der erste künstlich geschaffene Naturteich in ganz Großbritannien. Eine erfrischende Premiere. Doch was ist der künstlerische Aspekt an diesem Projekt? "Es geht um den Kontext", sagt Eva Pfannes vom Rotterdamer Büro Ooze Architects. Schon seit vielen Jahren arbeitet sie mit Marjetica Potrč zusammen. "In der Badehose zeigt man sich nackt und verletzlich, und das inmitten einer der größten Baustellen Londons, mit all den lauten Maschinen rundherum. Es ist spannend, hier so einen Raum zu öffnen. Das ist nicht alltäglich."

Die größte Qualität dieses Kunstprojekts im öffentlichen Raum - über die genauen Baukosten schweigt sich der Investor Argent LLP leider aus - ist seine so bodenständige Demokratie. Es richtet sich an Künstlerinnen und Kunstliebhaber, an Schwimmer, Öko-Freaks und Nachhaltigkeitsaktivisten, an Anzug-und-Krawatten-Träger sowie an ganz normale Besucher von Kunst im öffentlichen Raum. Im Wasser sind alle Menschen gleich.

Der King's Cross Pond ist als temporäres Zwischennutzungsprojekt konzipiert. Zwei Jahre lang soll es Bestand haben. Danach, wenn das Viertel mit all seinen Immobilienentwicklungen bekannt geworden ist, so der Plan, soll es abgebaut werden und einem lukrativeren Projekt Platz machen. Am Ende wird wieder die Rendite siegen. Das ist Gentrification in Reinkultur. Doch die Künstlerin und die Architekten zeigen sich optimistisch: "Das ist ein urbanes Gemeinschaftsprojekt. Es ist ein Werkzeug, das dabei helfen soll, eine resiliente und lebenswertere Stadt entstehen zu lassen." Mögen sich die Investoren von diesem Glauben anstecken lassen. Nach dem Sprung ins kalte Wasser wird einem ganz warm ums Herz. (Wojciech Czaja, 7.6.2015)

Die Reise nach London erfolgte auf Einladung von Biotop.