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Mossul vor einem Jahr: Nach wenigen Tagen Kampf nehmen die Milizen des "Islamischen Staats" die irakische Millionenstadt ein.

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Bagdad/Wien – Das irakische Parlament scheint es nicht besonders eilig zu haben: Der Bericht des Untersuchungsausschusses zur Eroberung Mossuls durch die Milizen des "Islamischen Staats" (IS) vor einem Jahr, genau am 10. Juni 2014, sei fertig, heißt es, werde aber erst veröffentlicht, wenn das Abgeordnetenhaus nach der Ramadan-Pause wieder zusammentritt. Der islamische Fastenmonat beginnt am 17. Juni, oft mit einem Tag Unterschied für Sunniten und Schiiten, denn die Verkündigung des Termins obliegt den jeweiligen religiösen Autoritäten.

Wirklich schlüssige Antworten, warum die in Mossul stationierte irakische Armee, teils unter Zurücklassung von schweren Waffen und Ausrüstung, nach nur wenigen Tagen Ansturm von zahlenmäßig unterlegenen IS-Kämpfern, aus Mossul floh, erwartet sich jedoch ohnehin niemand: Die Angelegenheit ist viel zu politisiert, um im Parlament abgehandelt werden zu können. Die Untersuchung, die im November des Vorjahrs beschlossen wurde, war von Beginn an von Schuldzuweisungen und, wie Abgeordnete berichteten, von politischem Druck begleitet. Als der eine große Schuldige wurde der jetzige Vizepräsident und damalige Ministerpräsident Nuri al-Maliki ausgemacht. Vom Präsidenten der kurdischen Regionalregierung in Erbil, Massud Barzani, kam etwa der Vorwurf, er habe Maliki vor der Gefahr für Mossul gewarnt, dieser habe sie ignoriert.

"Verschwörung"

Maliki antwortete mit der Behauptung, in Mossul habe keine Flucht der Armee stattgefunden, sondern eine "Verschwörung", ein geplanter Abzug – und Rückzug der kurdischen Peshmerga aus der Gegend –, um den IS in die Stadt zu lassen. Und so weiter.

Auch die Amerikaner sind heute im Grunde so ratlos wie vor einem Jahr, als US-Präsident Barack Obama nicht glauben konnte, dass es sich beim IS – damals hieß er noch "Islamischer Staat im Irak und Syrien" – um mehr als ein vorübergehendes Phänomen handelt. Diese Fehleinschätzung teilte er mit vielen professionellen Beobachtern. Erst als die Kurdengebiete akut bedroht waren, griffen die USA aus der Luft ein.

Zum Zustand der irakischen Armee konnten die US-Militärberater nur verwundert feststellen, dass diese nicht die gleiche war, die sie mit viel Geld und Einsatz bis zum US-Abzug 2011 ausgebildet hatten (wobei Ausbildungsprogramme auch nach 2011 weitergingen). Der neue Premier, Haidar al-Abadi – das Debakel in Mossul kostete Maliki nach gewonnenen Wahlen die dritte Amtszeit – entdeckte Ende November, dass 50.000 vom Staat bezahlte Soldaten nur auf dem Papier existierten. Beim G7-Gipfel gab Obama zu, dass die USA bisher noch keine befriedigende Strategie ausgearbeitet hätten, wie die irakische Armee wieder auf die Beine zu stellen sei.

Der Kampf gegen den IS im Irak wird derweil von "Volksmobilisierungseinheiten" getragen, ein Euphemismus, hinter dem sich meist schiitische Milizen – die auch aus dem Süden des Landes zuströmen – verbergen. Bei weitem nicht alle sind mit dem Iran verbunden, aber das ist jenen, die die arabisch-sunnitische Identität des Westirak bedroht sehen, egal. Erst vor kurzem haben sich wieder mehrere sunnitische Stämme bei Ramadi dem IS unterworfen.

Kaum Gegenwehr

Auch die Einnahme Ramadis am 17. Mai dieses Jahres hatte niemand erwartet: wieder das Muster eines relativ kleinen Ansturms, dem von irakischer Armeeseite fast nichts entgegengesetzt wurde. Die angekündigte Verstärkung kam nie an. Im Frühjahr hatte die irakische Regierung noch für den Sommer die Rückeroberung Mossuls in den Raum gestellt – davon ist heute keine Rede mehr.

Angesichts des nahenden Ramadan – in den am 29. Juni der Jahrestag der Ausrufung des sogenannten Kalifats durch Abu Bakr al Baghdadi, vulgo Ibrahim Swad al-Badri, fällt – sind die Befürchtungen groß. Im Gegensatz zur Situation vor einem Jahr befassen sich westliche Militärspezialisten mit möglichen Szenarien. Fast alle erwarten, dass der IS versuchen wird, einen Akzent zu setzen: Die Spekulationen reichen von einem Angriff zur Eroberung von Samarra (im neunten Jahrhundert mehrere Jahrzehnte lang Sitz des abbasidischen Kalifats) inklusive Zerstörung der dort befindlichen schiitischen Stätten bis zum "Aufwecken" von IS-Schläferzellen in Bagdad oder Damaskus. Wahrscheinlich sind – wegen der religiösen Komponente – vermehrte Angriffe auf Schiiten, auch in anderen Ländern, wie etwa in Saudi-Arabien. (Gudrun Harrer, 10.6.2015)