Gavino Ledda hat sich zuerst über das Militär und später durch das Schreiben aus der Herrschaft seines Vaters befreit. Die Verfilmung seiner Kindheit (Bild Mitte) erhielt 1977 die Goldene Palme. Heute lebt er wieder in Siligo auf Sardinien.

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Vor 40 Jahren erschien Gavino Leddas Buch Padre Padrone (Mein Vater, mein Herr) im Feltrinelli-Verlag. Der in Siligo, Sardinien, aufgewachsene Gavino Ledda beschreibt in dem autobiografischen Werk seine Kindheit und Jugend, in der er als Sechsjähriger aus der Schule genommen wurde, um als Ältester seinem Vater als Arbeitskraft zu dienen. Ursprünglich Analphabet, holte er mit zwanzig die Matura nach und studierte nach einer Ausbildung beim Militär zum Radiomechaniker in Rom Philologie. Padre Padrone wurde in Italien eineinhalb Millionen Mal verkauft und in 40 Sprachen übersetzt. Und 1977 erhielt der Film, bei dem die Taviani-Brüder Regie geführt hatten, die Goldene Palme in Cannes.

Es ist ein kühler Vormittag in Siligo, das örtliche Kaffeehaus, gegenüber der Kirche ist um diese Zeit gut besucht. Keine einzige Frau ist zu sehen. Wenn man nach dem Schriftsteller Gavino Ledda fragt, bekommt man misstrauische Blicke und die Frage, ob man wohl vorangemeldet sei. Da vorn, wo ein Widderkopf aus Stein über dem Türeingang prangt, dort sei er zu Hause.

Ledda öffnet, in einen dunkelroten Schlafrock gekleidet, die Türe. Trotz seiner nur 1,56 Meter wirkt er groß. Er bittet, durch einen dunklen Flur, weiter in sein Wohnzimmer. Er sei ein bisschen krank, murmelt der heute 76-jährige Mann. In einem großen, offenen Steinkamin brennt ein Feuer, davor stehen Blechkübel voll Asche, gleich daneben Leddas Fauteuil, in dem er jetzt Platz nimmt. Ihm gegenüber ein großer Tisch, übersät mit Büchern und losen Papieren, in der Mitte steht ein Globus. Neben ihm ein Stuhl, auf dem ein mit einer Filzdecke halb zugedecktes Akkordeon liegt.

STANDARD: Das Bild des Vaters ist heute - zumindest in unseren Kulturkreisen - nicht mehr vergleichbar mit dem, als Sie ein Kind waren. Wo sehen Sie den gravierendsten Unterschied?

Ledda: Mein Vater hat mich als seinen persönlichen Besitz betrachtet. Ihm war es ebenso mit seinem Vater ergangen. So war es: Patriarchen haben als Kinder gehorchen müssen; als Erwachsene haben sie befohlen.

STANDARD: In Ihrem Buch beschrieben Sie, dass er Sie als Kind mit einem Dornenstrauch fast blind geschlagen hatte. Haben Sie Ihrem Vater alle diese Misshandlungen verziehen?

Ledda: Als Ältester war ich die Stütze der Familie. Alle kämpften ums Überleben. Allen voran mein Vater, der ständig Angst hatte: um die Ernte, vor den Banditen oder davor, dass eines seiner Kinder, die ihm halfen, krank werden könnte.

STANDARD: Wann kam der Moment, in dem Sie sich ihrem Vater widersetzten?

Ledda: Ich sagte das erste Mal "Nein" zu ihm, als ich mich für eine Prüfung vorbereitete und lernend zu Hause war. Ich war damals Mitte zwanzig und arbeitete den ganzen Sommer mit meiner Familie auf dem Feld. Dann wollte ich studieren, und es kam zu Konflikten. Für meinen Vater war ein Studierender ein Taugenichts. Ich hatte genug von seiner Autorität und den ständigen Machtbeweisen. Ich wollte mich dem nicht mehr unterwerfen. Auch nicht seinen Schlägen und dem ständigen Herumgebrülle.

STANDARD: Mit Mitte zwanzig mussten Sie noch Schläge des Vaters fürchten? Kamen Sie nie auf die Idee, zurückzuschlagen?

Ledda: In jenem Sommer kam es zwischen uns zu einer Rangelei. Ich habe meinen Vater gegen die Wand gehalten. Hätte ich ihn geschlagen, hätte ich an diesem Tag sterben können. Aber ich habe ihm nur meine Stärke gezeigt und bin damals dadurch neu geboren worden. Mein Vater auch. Nach diesen Handgreiflichkeiten wurden wir beide wiedergeboren. Wir haben darüber nachgedacht, und er hat nie mehr wieder die Hand gegen mich erhoben.

STANDARD: Haben Sie Kinder?

Ledda: Nein. Leider nicht. Ich hatte eines, es starb mit vier Monaten.

STANDARD: Was haben Sie von Ihrem Vater gelernt?

Ledda: Er hat mir die Natur nähergebracht, sie mir erklärt. Ich trage sie in mir. Und auch Gott. Selbst wenn ich kein praktizierender Christ bin. Aber ich bin froh, dass es für mich einen Gott gibt.

STANDARD: Sie lebten schon als Achtjähriger allein als Schafhirte in der Natur und kamen nur einmal in der Woche, später noch seltener, nach Siligo zu Ihrer Familie. Wie haben Sie die Trennung erlebt?

Ledda: Die Natur hat mich damals um zehn Jahre reifer gemacht. Ich habe wenig geredet und habe mit mir selbst Dialoge aufgebaut, weil ich einsam war. Irgendwann war die Stille kein Schweigen mehr, sondern sie sprach zu mir. Als Kind habe ich mit dem Himmel und den Sternen gesprochen. Ich verstand und sprach alle Dialekte der Natur.

STANDARD: Auch die Musik spielte eine große Rolle?

Ledda: Aus der Natur entstehen die Musik und die Sprache. Für mich bedeutet Sprache Heimat, die Musik Freiheit. Ich bastelte mir Rohrpfeifen und hatte eine Mundharmonika, aber mein größter Wunsch war es, Ziehharmonika zu lernen. Die Wahrsager, die durchs Land zogen, spielten sie. Es brauchte eine lange Zeit, bis ich meinen Vater überreden konnte, dass ich bei einem Onkel Unterricht zu bekomme. Um besser zu werden, übte ich heimlich in der Nacht. Durch die Musik entstand in mir eine neue Empfindsamkeit. Die Sehnsucht nach Bildung hatte ich immer. Durch die Musik wurde sie stärker. Irgendwie wusste ich, dass sie meine Freiheit bedeutet.

STANDARD: Sie sprachen kein Italienisch, nur Sardisch, als Sie mit 20 Jahren zum Militär kamen.

Ledda: Eigentlich wollte ich Carabiniere werden, war aber - rückblickend glücklicherweise - zu klein. Also wurde ich Soldat. Es war schwierig mit dem Italienisch, aber ich hatte Kollegen, die mit mir lernten und mich unterstützen. Wahre Freunde. Ich lernte Latein und Altgriechisch. Mein Weg, um mich zu bilden, führte über das Militär. Später ging ich nach Rom, um zu studieren, da es dort mehr Möglichkeiten gab.

STANDARD: Tauschten Sie nicht, indem Sie sich zum Militär begaben, eine Autorität gegen die andere aus?

Ledda: Das war der Punkt, warum ich es wieder verließ. Aber ich kam aus dem Machtbereich meines Vaters heraus. Als wir uns damals im Dorf voneinander verabschiedeten, wussten wir gar nicht, wie wir mit dieser Vater-Sohn-Situation umgehen sollten. Er sah mich zum ersten Mal als Sohn. Der Mann, der über mich herrschte, wurde zum ersten Mal Vater. Wir waren beide sehr unbeholfen.

STANDARD: Haben Sie je Vaterliebe gespürt?

Ledda: Vaterliebe habe ich erst gespürt, als mein Vater 80 war.

STANDARD: Und Mutterliebe?

Ledda: Immer. Sie war meine Verbündete. Für alle war ich der dumme Gavino, nie für meine Mutter. Sie hat immer an mich geglaubt und hat mich das spüren lassen. Heute, wo sie nicht mehr lebt, habe ich keine Verbündete mehr.

STANDARD: Was beschäftigt Sie?

Ledda: Die Sprache. Ohne Sprache bin ich nichts. Heute empfinde ich nicht, dass mein Leben so war, wie ich es in Padre Padrone beschrieben habe. Wessen Schuld ist das? Meine? Die der Sprache? Meine Sprache ist von Dante geprägt. In allen Sprachen fehlt das Phänomen der Zeit. Das Wort hat sich nie erneuert. Heute brauchte ich eine neue Sprache, um ein Buch zu schreiben. (Cordula Reyer, 14.6.2015)