Wien – In der einen Richtung eine fast leere Landschaft, in der anderen ein dichter Häuserwald: Wer von der Dachterrasse eines der neuen Wohnanlagen einen 360-Grad-Blick auf die Seestadt Aspern wirft, könnte glauben, hier hat ein Hollywood-Regisseur aus Pappe eine riesige Stadtkulisse errichten lassen; oder eine Fortsetzung der Truman Show wurde aus dem amerikanischen Seahaven in das rote Wien verlegt.

Illustration: Oliver Schopf; Foto: Robert Newald

Neugierige Besucher

Aber der jüngste Stadtteil der Bundeshauptstadt ist keine Chimäre. Hier leben schon rund 4000 Menschen, darunter viele junge Familien mit Kindern, die auf die Eröffnung der Volksschule im Herbst warten, und Bürgerinnen, die sich darüber aufregen, dass ständig neugierige Besucher in ihren Stiegenhäusern herumlaufen. Noch sind auf den halbfertigen Straßen mehr Bauarbeiter als Bewohner zu sehen, aber überall keimt Leben: Die ersten Läden haben bereits geöffnet, Teenager tummeln sich in den Schwimmbädern auf dem Dach und zwischen den Wohnblöcken oder springen bereits in den namensgebenden künstlichen See, der zum Schwimmen noch gar nicht freigegeben wurde. 6000 Menschen sollen hier im Herbst wohnen, die endgültige Ausbaustufe sieht 20.000 Bewohner und ebenso viele Arbeitsplätze vor.

Die Seestadt war vergangene Woche auch Schauplatz des 52. STANDARD-Wohnsymposiums, das sich unter dem Titel "Schlafen oder Leben" der Frage widmete, was neue Stadtteile an Infrastruktur und Freizeitangeboten benötigen, um ein echtes soziales Leben zu entwickeln. Die Wünsche und Forderungen, die von Referenten und Teilnehmern aufgestellt wurden, entsprachen dabei ziemlich genau dem Konzept, das in Aspern in den vergangenen Jahren entwickelt und nun umgesetzt wird:

  • eine hohe Gebäudedichte, umringt von viel grüner Freifläche;
  • eine gute verkehrstechnische Anbindung und ausreichende Garagenplätze, aber weitgehende Autofreiheit auf den Straßen;
  • Schulen für alle Bildungsstufen;
  • eine zentrale Steuerung der Erdgeschoßzonen, die alle an die Entwicklungsgesellschaft Wien 3420 – der Name bezieht sich auf Asperns geografische Koordinaten – übergeben und von ihr strategisch an die passenden Händler und Gastronomen vermietet werden;
  • eine offensive Betriebsansiedelungspolitik, um Dienstleister, Gewerbe und Industrie anzuziehen, die ebenso viele Arbeitsplätze bieten sollen, wie es Bewohner gibt;
  • und schließlich eine Fülle von Freizeitangeboten, die aus dem Stadtteil ein echtes Grätzel formen sollen.

Homogen und eigenwillig

Die Architektur spielt dabei nicht die einzige, aber eine entscheidende Rolle. Der Masterplan von Aspern sieht ein homogenes Straßenbild vor, in dem aber die einzelnen Häuser ihren eigenen Charakter entwickeln können. Das scheint gelungen. Manche Gassen und Plätze wirken mit ihren geschickt gesetzten Stiegen und Winkeln fast wie alte italienische Städte mit all ihren attraktiven Begegnungsorten. Das zukünftige Leben in der Seestadt ist bereits in Ansätzen zu spüren.

Der Verkehr ist auf einige Durchzugsstraßen konzentriert, die Sammelgaragen sollten die meisten Gassen überhaupt von motorisiertem Verkehr befreien. Stattdessen gibt es ein eigenes kostenloses Citybike-System – zum Teil mit E-Bikes – für die Seestadt und Busse, die zu den beiden U-Bahn-Stationen führen, die doch noch ein Stück von den meisten Wohnhäusern entfernt sind.

Vorzeigeprojekt

Die Retortenstadt weit weg vom Zentrum, an deren Erfolg viele Experten lange gezweifelt haben, hat die Chance, zum Vorzeigeprojekt der Wiener Stadtentwicklungspolitik zu werden. Sie ist konzipiert, um alle Fehler etwa der Pariser Banlieue zu vermeiden. Und es ist ein Ort, wo die gemeinnützigen Bauträger, die einen Großteil der Wohnanlagen errichten, viele ihrer Stärken ausspielen können.

Die Verbindung von ländlicher Erholungsqualität mit urbanen Unterhaltungs- und Bildungsangeboten, klare Planung mit Raum für Experimente: So beschrieb Gerhard Schuster, seit vergangenem Jahr Chef von Wien 3420, die Philosophie der Seestadt beim Wohnsymposium, das vom Fachmagazin Wohnen Plus mitorganisiert wurde. Erst die hohe Dichte mache all diese Angebote finanzierbar, betonte er ebenso wie andere Vortragende. Und: "Alles ist möglich, wenn die verschiedenen Beteiligten zusammenspielen: Bauträger, Gemeinde und Investoren." Denn ohne die großen Vorabinvestitionen der öffentlichen Hand, vor allem der U2-Linie, wäre das Projekt nicht möglich gewesen.

Für den Raumplaner und Architekten Robert Korab ist die Seestadt mit ihrer bewussten Mischung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit ein "Modell des New Urbanism, im Gewand der Architektursprache der Moderne". (Eric Frey, 17.6.2015)