Unendlich cool und sagenhaft amerikanisch: Nora Buzalka und Werner Eng an der Bar in "Ohne Titel Nr. 1".

Foto: Thomas Aurin

Wien – Hätte ein Opernsänger ausgeschlagene Zähne, es wäre ihm schier unmöglich, die bevorstehende Partie zu singen. Nicht auszudenken, welch' eigentümliche Pfeifgeräusche sich unter die edle Stimme mischen würden. Ganz zu schweigen von der optischen Beeinträchtigung der vermuteten Wohlgestalt. Genau dafür interessiert sich Herbert Fritsch in seinem Opern-Comic Ohne Titel Nr. 1, der noch bis Freitag als Festwochen-Gastspiel im Burgtheater zu sehen ist. Er feiert die Fehler.

Der Regiespätzünder aus dem Hause Castorf (Fritsch war lange Zeit einer der Schauspielprotagonisten an der Berliner Volksbühne) errichtet im Genrekleid der sich durch höchste Perfektion definierenden Gattung Oper ein Gebilde aus Notlagen und Unzulänglichkeiten. Was nicht funktioniert, ist es wert, gezeigt zu werden! Das allerdings in höchster Präzision. Das hat weniger mit Political Correctness zu tun (auch das Dysfunktionale braucht seinen Platz), sondern mit dem puren Spaß am Spiel mit dem Unbeholfenen, den schieflaufenden Dingen.

Herbert Fritschs Hochleistungskomiker, die sich unter Tipptopp-Hartschalenfrisuren und Glitzergewand möglichst perfekt tarnen (Kostüme: Victoria Behr) dribbeln und wackeln, robben und schieben sich durch Ohne Titel Nr. 1 (schon dem Stücktitel wohnt ein gewisser Mangel inne) und behaupten sich. Die Bühne macht ihnen Angst. Das Gebälk knarzt immer wieder bedrohlich, auf dass sie sich zusammenrotten, aber natürlich sogleich wieder in Konkurrenzkampf zueinander treten. Der Misston ist hier die Zier der Melodie. Und für die schöne Kakophonie stehen den Musikern im Orchestergraben selten gesehene Instrumente zur Verfügung: Trillerpfeife, Kartonschachtel, Stromgitarre, Sambakugeln, eine Säge und ein Kuckuckrufer u. a. (Musik: Ingo Günther).

Text? Fehlanzeige

Text? Fehlanzeige. Der steht bei Herbert Fritsch nicht gerade hoch im Kurs. Spätestens mit Murmel Murmel (2012) hat er seinen Ruf als Slapstick- und Körpertheater-Regisseur gefestigt und steuert absehbar in Richtung Wes Anderson der Bühnenkunst. Es hagelt Einladungen zum Berliner Theatertreffen. Das Publikum hat er mit seinen knallbunten, komischen, den großen Theaterdonner anbetenden, aber doch platonisch bleibenden Arbeiten auf seiner Seite.

Eine überdimensionale Couch (in Holzoptik) thront auf der Burgtheaterbühne und wird dort vom oft orientierungslosen Theaterrudel vielfach angespielt. Die als Menschen verkleideten Kunstfiguren kommen von rückwärts über die Lehne geflogen oder stürzen frontal auf das gigantische Möbel zu. Wer auf ihm zu sitzen kommen will, muss zuerst den Luftweg bemühen. Einmal knotzen sie alle im Dutzend in Reih' und Glied aufgefädelt auf dem Sofa und beginnen einen sprachakrobatischen Streit in Nonsensschweizerdeutsch, -norddeutsch und -wienerisch. Beim Wort "Powidl" freut sich das Festwochenpublikum wie Bolle.

Ohne Titel Nr. 1 – Eine Oper von Herbert Fritsch, so der komplette Titel, bleibt aber der Dramaturgie einer Nummernrevue stark verhaftet. Wer an der Komik der Einzelteile keinen Gefallen findet, wird die hinter dem Ganzen stehende Tragik nicht verstehen. Erst das zusammengefügte Puzzle aus den stets in szenische Not geratenen Sängern/Akrobaten/Schauspielern bringt die Wirkung hervor: Die Nuschelrede, die ausgeschlagenen Zähne oder das Durchfallkonzert (mit Flatulenzprolog) machen nur Sinn im perfekt sitzenden Anzug und neben der großen, alles überragenden Sängergeste.

Fritsch lässt den letztklassigen Zaubertrick, den billigsten Witz, die Antisensation, den vergeigten Ton triumphieren. Das ist subversiv und macht Spaß. (Margarete Affenzeller, 17.6.2015)