Wien – Knallroter langer Umhang, furchterregende Clownsmaske, Ratsche in der Hand. Sobald sich eine solche Gestalt nähert, heißt es: Lauf um dein Leben! Sie lauern hinter Bäumen, im Gestrüpp oder kommen einfach die Wege rund um die Jesuitenwiese im Wiener Prater entlang. Die Clowns sind die Feinde, sie dürfen einen nicht berühren, sonst ist es vorbei. Zumindest im Nesterval-Spiel.

Nesterval ist eine Mischung aus urbaner Schnitzeljagd, Freilufttheater und Abenteuerspiel. Seit 2011 veranstaltet Initiator Herr Finnland etwa zehnmal im Jahr die aufwendig inszenierten Abenteuer rund um die fiktive Familie Nesterval. "Die Leute haben einen Spieltrieb in sich, aber meistens fehlt die Bühne, um den ausleben zu können", sagt Herr Finnland, der eigentlich Martin Hötzeneder heißt und genau diese Bühne schaffen möchte. Das Interesse ist groß: Die 120 Tickets für das letzte Abenteuer vor der Sommerpause waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft.

Sarah Brugner, Michael Luger

Vorab werden nur Laufschuhe, Gelsenspray und 40er-Jahre-Dresscode empfohlen, der Rest ist geheim. Auch der Treffpunkt ist ein Rätsel. Ein lösbares, wie die wachsende Menschentraube auf der Prater Hauptallee zeigt. Was sich hinter dem kryptischen Abenteuertitel "The Village Vol. 1: Ghosts" verbirgt, weiß aber niemand.

Es geht los mit dem Weg ins "Dorf", das Zentrum des Spiels. Mit Liliputbahn und zu Fuß wird der Prater durchquert, im Dickicht des Waldes stehen rätselhafte Gestalten in roten Umhängen, manche von ihnen halten Schilder, auf denen "Kehrt um!" oder "Ihr seid in großer Gefahr!" steht. Im Dorf erklärt Herr Finnland die Spielregeln, und die Charaktere der Familie Nesterval treten erstmals in Aktion.

Stadträte und Lebensgeister

Die Story: Thomasz Nesterval will Stadtrat werden und lädt zu einem Fest. Seiner Schwägerin Zarah ist Thomasz' hedonistischer Lebenswandel ein Dorn im Auge, sie lässt ihn mit einem Fluch belegen, der seine Lebensgeister einfängt. Die zehn Spielgruppen haben nun die Aufgabe, den richtigen Schlüssel für die Schatulle mit Thomasz' Lebensgeistern zu finden, um sie wieder freizulassen. Dafür müssen sie an zwölf verschiedenen Stationen Rätsel lösen. Richtige Antworten werden mit einem Schlüssel belohnt. Wer am Ende den richtigen Schlüssel hat, gewinnt.

Sarah Brugner

Kaum ist das zu Ende erklärt, kommen schon die bösen Clowns den Hang heruntergelaufen und lassen die Teilnehmermenge schreiend auseinanderstieben. Selbst die halbmotivierten Jugendlichen, die gerade noch "kindisch" gerufen haben, laufen jetzt, so schnell sie können. "Im Spiel setzt jede Vernunft aus", sagt Herr Finnland, "auch wenn es nur um einen Luftballon geht (der ein Leben symbolisiert, Anm.)."

Stadtraum spielerisch zurückerobern

Die Idee zu Nesterval kam ihm bei einer Schnitzeljagd mit Freunden: "Ich fand es lustig, aber hab' mir gedacht, da geht noch mehr." "Na, dann mach's doch besser", kam es schnippisch zurück. So begann Herr Finnland mit zwei Kollegen am Konzept von Nesterval zu arbeiten. Mittlerweile ist das zu seinem Beruf geworden. Kunden wie ProSiebenSat.1, FM4 oder die Kunsthalle Wien buchen maßgeschneiderte Schnitzeljagden bei ihm. Teambuilding, Firmenfeier oder unkonventionelle Marketing-Aktion – die urbanen Abenteuer sind vielseitig einsetzbar und kommen sehr gut an. "Ich glaube, wir haben alle die letzten zehn Jahre zu viel Zeit damit verbracht, vor dem Computer zu leben und zu arbeiten", sagt Herr Finnland. "Wir wollen die Leute auf spielerische Weise den Stadtraum zurückerobern und bekannte Orte neu entdecken lassen."

Sarah Brugner

Die Jesuitenwiese im Prater ist an diesem wechselhaften Sommerabend tatsächlich vor allem ein Nesterval-Schauplatz. Die spielenden Kinder schalten sich bald ein und liefern sich Jagden mit den Clowns, Hunde verbellen aufgeregt die laufenden Teilnehmer, und Spaziergänger beobachten das seltsame Treiben mit fragend-neugierigem Blick.

Surreale Atmosphäre

Die Spielgruppen kommen kurz vor Dunkelheit erschöpft, schwitzend, von Mücken sekkiert und mit mehr oder weniger Schlüsseln ins Dorf zurück. Wer am Ende den richtigen Schlüssel hat und den Preis – Tickets für eine TV-Show-Aufzeichnung – gewinnt, ist fast nebensächlich. Die Atmosphäre ist gelöst, das Licht von Fackeln schafft eine surreale Atmosphäre im finsteren Prater, und der Ausbruch aus dem Alltag für drei Stunden geht mit einem euphorischen Applaus für Sieger, Organisatoren und ein bisschen auch den eigenen Einsatz zu Ende. Es dauert ein paar Minuten, bis sich die Spieler wieder im echten Leben zurechtfinden. Wo geht's jetzt eigentlich zur U-Bahn? (Michael Luger, 23.6.2015)