V wie Vinyl: Eine Rückkehr vom Digitalen zum Analogen wird es mit Sicherheit nicht geben. Trotzdem sind alte Plattenspieler und andere analoge Alternativen manchmal eine gute Sache.

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Wir hinterlassen Spuren, immer mehr auch digitale, gewollt oder ungewollt. Und so viel ist fix: Diese Daten werden gesammelt. Das Schlagwort Big Data ist allgegenwärtig, und allgegenwärtig ist mittlerweile auch die Erkenntnis, dass Big Data auch Big Money bedeutet. Genau: Daten sind das neue Öl, auch wenn sich viele noch immer nicht vorstellen können, wie Data-Mining, das Graben nach digitalen Informationen, konkret funktioniert. Abgetragen wird mithilfe von Computern und Internet, Sensoren und Überwachungskameras, Mobiltelefonen und Satelliten, Bankdaten und Kreditkarten. Aber wegen alldem hat Andre Wilkens sein Buch nicht geschrieben. Geschrieben hat er es, weil nebenan in seiner Straße, in der er in Berlin mit seiner Familie lebt, erst vor kurzem wieder ein Video- und Filmverleih aufgesperrt hat, der zu seiner großen Überraschung bestens läuft.

Aus den Sackgassen der Welt

Sein Plädoyer Analog ist das neue Bio stellt mit seinem zeitgeistigen Titel eine gewagte These auf. Denn natürlich ist Vorsicht geboten bei allen Sagern, die da propagieren, dass irgendwas das neue irgendwas ist. Es lohnt sich trotzdem, dem Berliner Autor eine kleine Fläche in unseren kurzen Aufmerksamkeitsspannen einzuräumen. Sie müssen wahrscheinlich erst schnell noch Ihre Mails checken, auf eine Whatsapp-Nachricht antworten, das gelungene Dingsda auf Facebook posten und über sonst etwas, das Sie gerade bewegt, maximal 140 Zeichen in die Welt zwitschern.

Aber falls Sie doch Zeit zum analogen Lesen haben: Wilkens macht einen Ausflug, führt durch digitale Landschaften, zeigt, wie sie ausschauen, und entwirft Szenarien, wie das große digitale Ganze uns in Zukunft immer noch weiter aus den Sackgassen der Welt helfen kann: Terrorismus besiegen, die Zahl der Verkehrstoten senken, mit smarten Gesundheitsoptimierungen nie wieder krank werden oder bald mit Menschen weltweit und ohne Sprachbarrieren kommunizieren können. Ist Digital, fragt sich der Autor da noch einigermaßen euphorisch, die Zukunft und die Hoffnung auf Weltverbesserung? – Bevor er nur eine Seite später endlich auf die Risiken und Nebenwirkungen der ganzen Angelegenheit zu sprechen kommt.

Dass seit Edward Snowdon die digitale Welt nicht mehr heil ist, ist ein allgemeiner Befund. Für Wilkens, 1963 in Ostberlin geboren, war der Schock über die NSA-Aktivitäten aber nicht ganz so groß wie für andere, die nicht in einem Überwachungsstaat aufgewachsen sind. "Die Zweifel an Digital", schreibt er, "die Snowden gestreut hatte, bleiben nicht auf die NSA und den Überwachungsstaat begrenzt, sondern breiten sich auch auf das Herzstück des Kapitalismus, die Wirtschaft, aus." Er meint damit, dass sich die Daten und das Wissen um zukünftige Muster im Verhalten von Menschen zu Geld machen lassen. Bestes Beispiel: Facebook, in zehn Jahren aus dem Nichts zu einer der erfolgreichsten Firmen der Welt aufgestiegen, mit einem Produkt, dessen Wert hauptsächlich aus unzähligen Familien- und Katzenfotos, Updates von Urlaubsbildern, Essgewohnheiten, Nachrichten und Likes besteht.

Weil Algorithmen dafür sorgen, dass Amazon immer besser unsere Gedanken lesen kann, werden Menschen immer mehr zu gut geölten Konsummaschinen. Sein Buch bringt die dialektische Misere treffend auf den Punkt: Das, was das Digitale besser machen könnte, nämlich geistig zu wachsen, aber materiell zu schrumpfen (nebenbei noch viel Geld zu verdienen und die Welt zu retten) – unsere wachsenden Ansprüche und das stetige Wachstum machen diese technologischen Fortschritte wieder zunichte. Das erinnert an den Umstand, dass uns das schnelle Übermitteln von Nachrichten via E-Mails und soziale Medien auch nicht dazu geführt hat, dass wir heute mehr Zeit haben – im Gegenteil.

Lebensqualitäten überdenken

Wir erschaffen heute Technologien, die intelligenter sind als Menschen. Und genau an dieser Stelle stellt sich Wilkens schließlich die Frage, ob es Grenzen des Digitalen gibt – und kommt damit zum eigentlichen Thema seiner Ausführungen.

Auch der aus der Schweiz stammende und an der Universität Hamburg lehrende Soziologe Urs Stäheli ist im Zuge seiner Beschäftigung mit der globalen Finanzkrise auf Praktiken der Entnetzung gestoßen, nämlich dort, wo Vernetzung zunehmend als Risiko empfunden wird. Stichwort: Börsenpanik. Auch für ihn, der am Wiener IFK gerade einen Vortrag zu diesem Thema gehalten hat, findet langsam eine Verschiebung statt. Während, wie Stäheli ausführt, im "neuen Geiste des Kapitalismus" (Luc Boltanski und Ève Chiapello) der Netzwerker – auch der digitale – die zentrale Figur war, die belohnt und honoriert wurde, weist der vielfach besprochene Bestseller von 2012 Quiet: The Power of Introverts in a World that can't stop talking der US-Sozialwissenschafterin Susan Cain, der die Wiederentdeckung der Introvertierten zum Thema macht, in eine neue, entgegengesetzte Richtung. "Es gibt zunehmend ein Krisenbewusstsein", sagt Stäheli, "in den Bereichen, wo Vernetzung stark gestiegen ist."

Wenn Analog tatsächlich das neue Bio sein soll, geht es im Endeffekt darum, Lebensqualitäten neu zu überdenken. Der Vergleich zwischen Bio und Digital hinkt vielleicht manchmal, oft aber auch nicht. Analog wird und ist tendenziell teurer, wie Bio eben auch. "Der andere Mensch wird zum Luxus", schreibt Wilkens, "als Kollege, Assistent, Verkäufer, Dienstleister, Arzt, Freund, vielleicht sogar als Liebhaber." Das bedeutet: Es wird zu einer neuen Zweiklassengesellschaft kommen. Die digitalen Vorreiter im Silicon Valley wissen das schon und schicken ihre Kinder zum Beispiel vermehrt in Waldorfschulen, die dort derzeit boomen. Und bei Steve Jobs waren iPads zu Hause ohnehin verboten.

Urs Stäheli will gar nicht aus den digitalen Netzwerken aussteigen, weder aus einer nostalgischen noch aus einer kulturpessimistischen Haltung heraus. Den Soziologen beschäftigen aber, bildlich gesprochen, nicht nur die Fäden, sondern auch die Löcher an einem Netzwerk. Seit kurzem forscht er auch über das Phänomen des Digital-Detox-Tourismus, in dem "Entnetzung zu einem hochexklusiven Produkt wird, zu einem Angebot, das sich wiederum direkt an die hochvernetzten Eliten des digitalen Kapitalismus richtet". Verrückt eigentlich.

Hier geht es aber längst nicht um individuelle Strategien, sondern um systemische. Heute geht es um kostenlose digitale Dienstleistungen gegen Manipulation. "Das ist der Deal", erklärt Andre Wilkens zunehmend schonungslos und fragt sich – und damit uns: Was tun?

Ein Völkerrecht für Digital

Würde man die Machtkonzentration von Google in eine analoge Welt übersetzen, hätte eine einzige Automarke einen Marktanteil von 90 Prozent – weltweit. Wilkens: "Warum lassen wir digital zu, was wir analog nie zulassen würden?" Weil es kein ausreichendes globales Regelwerk gibt, erklärt uns der Berliner Autor und fordert ein Völkerrecht für Digital und plädiert für eine "kompetente und schlagfertige Digital-Analog-Bewegung" und liefert auch gleich deren Zuschnitt mit: "ein bisschen Amnesty, ein bisschen Wikipedia, ein bisschen betterplace, ein bisschen Gezi-Park". Ein Hybrid von Analog und Digital.

So wie Wilkens, der sagt, dass wir uns in der Wildwest-Phase der Digitalisierung befinden, kommt auch Stäheli zu dem Befund, dass wir noch ganz am Beginn einer Entwicklung stehen, und vergleicht den Umgang mit den neuen Medien heute mit Analysen einer Zeit, als die Städte noch neu und deren Bewohner gefordert waren, indifferent zu sein, sprich nicht jeden zu grüßen, der einem in der Stadt begegnet.

Auch wir müssen heute Techniken und Taktiken entwickeln, möglicherweise auch solche der Entnetzung, um uns in den digitalen Netzwerken bewegen zu können. Die Vorschläge, ein etwaiges Vakuum analog zu füllen, das durch Digital Detox entstehen könnte, hat Wilkens am Ende seines Plädoyers in Form eines Analog-Alphabets aufgereiht: Von A wie Analog Friday bis V wie Vinyl – oder eben auch Video- Verleih. (Mia Eidlhuber, Album, 27.6.2015)