Wien – Ein langsam verfallendes Haus besuchte er wie einen Verwandten, allwöchentlich. Zu diesem Haus, das sein Besitzer verlassen hatte, "obwohl er dort Lachen und Weinen gelernt hat", entwickelte der italienische Fotograf Mario Giacomelli (1925-2000) eine Beziehung. Er konnte mit dem Gebäude sprechen, wie er mit so manchem Menschen nicht zu reden vermochte. Weil es da allzu oft nur ums Geld gegangen war. Für Giacomelli lag der größte Reichtum in jenen Dingen, die anderen unnütz erschienen.
Diese Anekdote, die er 1987 seinem Fotografenkollegen Frank Horvat erzählte, mag eine Ahnung geben von jenem untrüglichen, seismografischen Gespür für Vergänglichkeit, das Giacomellis OEuvre durchzieht. Wenn er die Dinge im Foto festhielt, dann auch, um das Leiden an der Zeit zu lindern. Der Schmerz hat sich indes in die Bilder eingeschrieben: überdeutlich dort, wo sie sehr alte und kranke Menschen zeigen; als schwebende Melancholie, wo Landschaften, Bauern, oder Liebespaare im Gras zu sehen sind.
Selbst in seinen Fotos aus dem italienischen Dorf Scanno, wo Giacomelli in den späten 1950er-Jahren voller Glück eine "erträumte" Welt schaute, schwingt noch Hoffnungslosigkeit mit. "Weil sie eben immer in mir ist", wie er sich Jahrzehnte später erinnerte.
Seismografisches Gespür für die Vergänglichkeit
Einige Bilder, die aus diesem Hadern Giacomellis mit der Vergänglichkeit entstanden sind, zeigt derzeit die Galerie Westlicht. Gegen die Zeit versammelt Auszüge aus zentralen Serien (wie dem zwischen 1954 und 1983 verfolgten Hospiz-Projekt), die vorwiegend im Umkreis seines selten verlassenen Heimatorts Senigallia entstanden sind. Die Retrospektive versetzt uns gewissermaßen in Giacomellis rurale Atmosphären, um uns dort mit dem Künstler einige Atemzüge tun zu lassen. So natürlich erschien ihm nämlich das Fotografieren, dass er es einmal mit Atmen verglich.
Die Kamera sah er nicht als unbestechliches, kühles Werkzeug, sondern als Teil seiner selbst. Intuition war ihm wichtiger als technische Feinheiten des Apparats. Die Sache mit Blende und Belichtungszeit habe er "mit dem Herzen" gelernt, sagte er einmal. So fügt sich Giacomelli in die Reihe jener Fotografen ein, die sich mit der Frage befassten, wie man das "objektive" Präzisionsinstrument Kamera für subjektive, emotionale, ambivalente Blicke einsetzen könne.
In diesem Sinne geradezu klassisch ist Giacomellis Ansatz in der Serie Das Bewusstsein für die Natur: Aus der Höhe fotografiert, wurden Ackerfurchen zu geometrischen Mustern, lösten sich zu Formen, Linien, Flächen auf. Nicht der ästhetische Wow-Effekt zählte. Wenn er die Dinge aus dem Fluss der Zeit hob, wollte er keine leblosen Konserven schaffen, sondern vielmehr Organismen.
Unter die Haut der Dinge
Von daher rührt Giacomellis Credo: Um mit der Fotografie "unter die Haut" der Dinge zu blicken, so meinte er, müsse man sich eingehend mit Orten oder Personen befassen. Mit den jungen Priestern, die er für die Serie Ich habe keine Hände, die mein Gesicht streicheln ablichtete, lebte er drei Jahre lang zusammen. Er "wurde einer von ihnen", ehe jene eleganten Tableaus entstanden, die Priester Schneebälle werfend und tanzend inmitten weißer Pracht zeigen. Wie schwerelose Engel in schwarzen Kutten: Um sie aus Raum und Zeit herauszuheben, hat Giacomelli den Kontrast so verschärft, dass vom Hintergrund nur eine gleißende Fläche geblieben ist.
In welchen Formen das menschliche Zusammenfinden in Giacomellis Fotos eingeschrieben ist? Dieser Frage kann man in der Galerie Westlicht gut nachgehen. Die "Schönheit" seiner Bilder ist dabei mitunter spröde, entzieht sich, will erarbeitet werden. Man muss aber bedenken: Auf eine lückenlose Reihe genialischer Würfe hatte es Giacomelli, der die Fotografie stets neben seiner Tätigkeit als Drucker und Campingplatzbesitzer betrieb, nie abgesehen. Und überhaupt, so konterte er einmal: Bei Atemzügen unterscheide man nicht zwischen guten und schlechten. (Roman Gerold, 4.7.2015)