Der Bachmann-Preis sah von 1988 bis 1994 einen beredten Juror am Werk. Mehr als 20 Jahre später legt er nun seinen ersten Roman vor. Jene, die er damals beurteilt hat, können heute nachlesen, wie er den Kriterien, die er seinerzeit im Ton der Überzeugung zu nennen vermochte, selbst nicht genügt. Über das literarische Fiasko eines Buches hinaus illustriert Volker Hages Die freie Liebe ein ungutes Phänomen, das seit einigen Jahren gehäuft auftritt.

Unsere Medienwelt, die auf Show und Event aus ist, gibt Meinungsbildnern auf dem Gebiet der Sprachkunst nicht viele Möglichkeiten eines Liveauftritts wie in Klagenfurt oder bei spätabendlichen TV-Sendungen. Ist doch Literatur üblicherweise eine komplexe Angelegenheit, die offenbar nicht zu den Feiern des Oberflächlichen passt.

Der Kreis der Personen, die über Zutritt und ästhetische Anerkennung entscheiden, ist überschaubar. Sie sind "Türhüter": Verleger, Lektoren, Juroren, Kritiker, Buchhändler. Eine Kumulierung dieser Positionen stärkt die Definitionsmacht und bietet den Vorteil, Kunsturteilen den Anschein der Selbstverständlichkeit zu verleihen.

Wenn nun diejenigen, die sich in den Medien einen Namen gemacht haben, auf die Seite der Romanciers, Dichter oder Dramatiker wechseln, öffnen sie sich kraft ihrer Position selbst die Tür und treten der Gattung das Tor ein, indem sie sie flott verfügbar machen. Kürzlich bedauerte im Café-Gespräch der Programmchef eines mittleren Verlags, er hätte doch nicht gut das Manuskript des bekannten Feuilletonredakteurs ablehnen können, auch wenn es ihm nicht gefallen hätte.

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So einfach geht das mit der freien Liebe: Der Literaturkritiker und Neoromancier Volker Hage hat sich den Truffaut-Film "Jules und Jim" als simple Vergleichsgröße erkoren.
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Nach dem Soziologen Pierre Bourdieu stellt sich zunächst die Frage, wer wie über symbolisches Kapital verfüge und wie sich dies auf die Formen auswirke. Bourdieu analysierte die Feinen Unterschiede und die Regeln der Kunst, wie zwei seiner Hauptwerke heißen, in Frankreich. Dort grassierte unter Prominenten die Mode, sich zur Steigerung von Ansehen und Bedeutsamkeit auf dem Feld der Literatur seinen Kreativitätsbonus zu holen. TV-Präsentatoren und Schauspieler publizierten Erzählungen, Politiker mit Vorliebe historische Romane, besonders passend schien ihnen die Figur des Königs Henri Quatre. Natürlich reichte keines dieser Bücher auch nur im Entferntesten an Heinrich Mann heran.

Darum ging es nicht. Es ging um den feinen Unterschied. Mit dem egofördernden Vorteil, sich nicht Türhütern beugen zu müssen, sondern die Schwelle locker zu nehmen und sich von Freunden im Kulturreich der Medien gehuldigt zu sehen – ganz anders als die Mühen vieler Literaten, Zugang zum großen Spielfeld des Buchmarktes zu erhalten.

Als dann zahlreiche Promis ihre Romane an die Kioske gebracht, sich in ihren Talkshows gegenseitig belobigt hatten und sich der feine Unterschied nivellierte, kamen die Herrschaften auf den Film, und einige der neuen Romanciers erhoben sich zu Regisseuren. Einfach gesagt: Der Roman hatte an sozialem Wert verloren, dafür hatten einige Opinionleader gesorgt, die den Niedergang der Kultur lautstark beklagten.

Wer als Kritiker Karriere gemacht hat und dann sein literarisches Debüt vorlegt, profitiert von seiner Position auf einer anderen Ebene. Das müsste nicht weiter zu denken geben, wenn es sich nicht um Konfektionsware, sondern um ein wahres Meisterwerk handeln würde. Der vorläufig Letzte, der im deutschen Sprachraum diesen Weg mit fortgeschrittenem Alter geschafft hat, war allerdings Theodor Fontane. Der Spiegel-Redakteur Volker Hage gibt ein Gegenbeispiel ab und steht damit heute keineswegs allein da.

Hummersuppe

Worüber schreibt ein Kritiker in seinen späten Mannesjahren? Über die frühen Mannesjahre und die frischen Gefühle von damals, am besten gleich über Die freie Liebe. Nach langer Zeit treffen sich zwei Herren bei Sancerre rosé, Hummersuppe und Lammrücken wieder. In ihren künstlerisch-medialen Berufen haben sie es zu kleiner und größerer Berühmtheit gebracht, Wolf als Regisseur, allerdings eher von Tatort- Folgen, Andreas als Schauspieler, immerhin mitunter in Hollywood. Das passende Milieu für eine schöne Nostalgie. Während ihres Studiums haben sie in München eine WG und mit Lissa eine Dreierbeziehung gebildet, deren Höhen und Scheitern nun der Icherzähler Wolf im eigenen Tagebuch nachliest.

In dessen knapper Form meint Hage wohl das Ambiente von 1971/72 wiedergeben zu können. Wie sein Protagonist, der alles abfilmen und archivieren will, schafft er jedoch nur Bilder von Oberflächen. Auch in der Erzählgegenwart, mehr als 40 Jahre später, ist der Duktus nicht besser. Anders als es die Klappe des Buches behauptet, ersteht kein "genau gezeichnetes Zeitporträt", sondern eine Simulation mit Signalwörtern: Filmtitel, Namen von Bands, Presseschlagzeilen. In Hages Roman ist die Welt nicht Erscheinung und Vorstellung, sondern dünnes Zitat.

Ebenso simpel ist der Vergleich der Dreierbeziehung mit dem Truffaut-Film Jules und Jim, ebenso einfach der Befund über die Liebe vor Zeiten. Das Chicago-Konzert "hatte bei uns beiden Unruhe hinterlassen", danach fallen Kalendersprüche: "Man ist eben heute nicht mehr eifersüchtig. Man stellt keine Besitzansprüche mehr. Man glaubt an die freie Liebe." Hage arbeitet mit Schablonen zur Emotionalisierung. "Wunderschön" sei Lissa, die aber als reduziertes Frauenbild erscheint. Wiederholt finden einzig die großen Brüste und das "pechschwarze Schamhaar" Erwähnung und Anerkennung.

Phrasen ersetzen Beschreibungen: "Wie groß ist die Natur, wie endlos die Landschaft im ersten Schnee." Dem Roman mangelt es sowohl an Tiefe als auch an Präzision. Dass "wie selbstverständlich" logisch falsch ist, hätte dem Lektorat auffallen müssen.

Die freie Liebe ist der Gefühlskitsch eines Diaristen, der dem Tagebuch in altersweiser Voraussicht anvertraut: "Ja, ich sage jetzt einfach mal 'du' zu diesem alten Mann, der aus mir geworden sein wird." Der erteilt sich beim Sex und beim Erzählen ein gefälliges Selbstlob: "München stöhnt unter der Hitze (auch schön gesagt: eine Stadt, die stöhnt)." Nein.

Marcel Reich-Ranicki lobte an Volker Hage, der dem mächtigen Kollegen wiederum einen Porträtband gewidmet hat, bei seinen Rezensionen wisse man immer genau, was er sagen wolle. Der nun 66-jährige Hage hat sie in den einflussreichsten Blättern publiziert, in der FAZ, der Zeit, dem Spiegel, bei Reclam gab er lange die Jahresbilanz Deutsche Literatur heraus. 2005 und 2006 redete er in der Jury für den Deutschen Buchpreis sein gewichtiges Wort mit, obwohl die Organisatoren erklärt hatten, die Besetzung des Gremiums wechsle jährlich. Immerhin entscheidet es über einen Verkaufserfolg, der in die Hunderttausende geht. In der Folge zeigte sich, dass die Zuständigen vom Börsenverein, der den Preis ausrichtet, offenbar Kritiker-Romanciers bevorzugen.

Alter, Sex, Erinnerung

In diese Jury kam 2007 Hajo Steinert, Abteilungsleiter "Kulturelles Wort" im Deutschlandfunk, dessen Rezensionen in der FAZ und in der Zeit erschienen. Soeben hat der 63-Jährige seinen Romanerstling Der Liebesidiot vorgelegt, in dem ein professioneller Sprecher den Leidensgenossen in einer Rehaklinik seine Memoiren eines Erotomanen vorliest. Auch hier: Alter und Sex und Erinnerungen an die wilden frühen Jahre. Es sei das tragikomische Porträt einer Generation erschlaffender Männer, lobten Kollegen das Buch. Die Zeit bestätigte ihrem eigenen Kritiker einen "großen Wurf", und der SWR, dessen Bestenlistenjury Steinert angehört, verkündete, dass er "mit allen literarischen Wassern gewaschen" sei. Tatsächlich ist sein Roman komplexer angelegt als jener von Hage, immerhin stellt er eine Weltwahrnehmung mittels Sprache dar, wenn auch mit dem Esprit eines norddeutschen Karnevals. Seine abgegraste Thematik und die brave Umsetzung reichen freilich nicht über ein Mittelmaß hinaus.

Im Interview gab Steinert interessant Bezeichnendes preis und begann mit der Nostalgiezeit: Während des Studiums in den 70er-Jahren "hatte ich den Traum, eine künstlerische Existenz zu führen". Das Wagnis der Schriftsteller ging er nicht ein, vielmehr wählte er den Umweg.

Er sei "ängstlich und pragmatisch genug" gewesen, sein Geld als Redakteur zu verdienen. Entsprechend etabliert lässt sich ohne Wagnis publizieren. Der "letzte Kick" zum Debüt als Romancier "kam bei einer Wanderung in Österreich, mit Kollegen aus dem Literaturbetrieb" – der Roman ein Kick, das Fortkommen eine Seilschaft. Er habe von seinem Projekt erzählt, und der Verleger habe zugegriffen.

Es sei eine "seltsame Form der Aufmerksamkeit", die ihm nun zuteil werde, tat Hajo Steinert auf dem blauen Sofa des ZDF überrascht. Der Moderator der Sendung, Wolfgang Herles, Jahrgang 1950, hatte selbst 1996 den ersten seiner bislang drei Romane publiziert, nachdem er schon jahrelang TV-Redakteur gewesen war.

Ähnliche Ämterkumulierungen fallen freilich nicht nur bei unseren Nachbarn an. Auf dem blauen Sofa sagte Hajo Steinert, einzig in Deutschland gebe es diese Ressentiments gegen romanschreibende Kritiker. Dabei ließ er allerdings den wesentlichen Unterschied außer Acht, ob jemand frühzeitig als Literat hervorgetreten war und auch Rezensionen verfasste oder ob einer von seiner Türhüter-Funktion aus dann bequem die Seiten wechselte.

In Österreich und anderswo mag uns eine Reihe solch Spätberufener in den Sinn kommen, womöglich haben wir auch schon einen von ihnen jammern gehört, er werde nicht gebührend wahrgenommen: ein Verleger zugleich als Prosaist, Juror und Rezensent; ORF-Leute und Journalistinnen, Kulturredakteure und Leiter eines Literaturzentrums als Romanciers.

Derartiges tritt mit dem medialen Promizirkus gehäuft auf, es handelt sich aber fürwahr um kein neues Phänomen. Der deutsche Kritiker Hellmuth Karasek, Jahrgang 1934, spielte in Reich-Ranickis Literarischem Quartett mit, war ebenfalls Juror in Klagenfurt, schrieb für Zeit, Spiegel und Welt. Karaseks Das Magazin ist ein Schlüsselroman über den Spiegel, der Protagonist, der diese Parodie erleiden muss, heißt Daniel Doppler wie das Pseudonym, das Karasek als Autor seiner Boulevardkomödien und Glossen verwendete. In diesem Fall geht es nicht um Liebesnostalgie, sondern um Abrechnung.

Den zweiten Roman, Betrug, brachte Karasek 2001 bei Ullstein heraus. Die FAZ bezeichnete diesen als "verbraucherfreundliches deutsches Konsensprodukt", Jochen Jung erklärte ihn in der Zeit zu einem "der schlechtest geschriebenen ernstgenommenen Bücher der Saison". Was das indes bedeute, dass da ein alter Herr seine Position für ein "Konsensprodukt" benütze, reflektierte man kaum.

Pflichtschuldigkeit

Anders bei Fritz J. Raddatz, Jahrgang 1931, über dessen Erstling Kuhauge Adolf Muschg im März 1984 im Spiegel fragte: "Der notorische Kritiker als literarischer Debütant. Darf er das nötig haben?" Raddatz war Cheflektor bei Rowohlt, dann leitete er das Feuilleton bei der Zeit. Im Februar dieses Jahres riefen ihm die Zeitungen nach seinem Tod geradezu Hymnen nach, die Süddeutsche fasste die Rezeption seiner Romane zusammen: "Die Kritiker waren ihm anfangs pflichtschuldig und fast schon peinlich gewogen."

Der Kritiker als Romancier, das scheint ein Phänomen alternder Männer zu sein. Was sie sehnsüchtig über Liebe von damals oder heute schreiben, klingt mitunter wie eine intellektuell verkleidete Bobo-Version des Altherrenwitzes. In Volker Hages verquerer Formulierung: "Sexuelles war im Spiel." Im Spiel ist jedenfalls ein selbstbewusstes Gieren nach Lorbeeren des Kreativen. Aus der Sekundärliteratur möchte man ins Primäre.

Die – seltenere – weibliche Variante sieht meist ein wenig anders aus. Ursula März, Rezensentin vor allem für die Zeit, auch sie früher in der Klagenfurter Jury, bringt nun ihren Band Für eine Nacht oder fürs ganze Leben heraus. Mit Hage und Steinert ist es die dritte Kritikerliteratur in einem Halbjahr. Der Untertitel "Fünf Dates" ersetzt die Gattungsbezeichnung, das lässt den Anspruch offen.

Eine Icherzählerin namens Ursula März führt fünf Gespräche über Liebe und Sex in Zeiten des Internets, zwischendurch erinnert sie sich an ihre eigene Geschichte. Sie will herausfinden, wie sich in der Gesellschaft unserer reichen Länder mit ihren Simulationen und virtuellen Möglichkeiten Beziehungen anbahnen und leben lassen. Das ergibt Einblicke in Privatsphären, aber die Gründe für die sozialen Zustände interessieren die Autorin wenig.

Verpackungskunst

Auch diese Prosa, die immerhin mit leichter Ironie komplexere Charaktere schildert, leidet unter sprachlichen Schwächen. Formeln wie ein nichtssagendes "aus welchen Gründen auch immer" bringen weder Präzision noch Tiefgang. Da hat eine "Unternehmung" den "Anstrich einer Milieubesichtigung" (welcher Farbe?), ist ein Argument – was?: – "durchschlagend", "passt" ein Mann "in ihr geöffnetes Becken" (wie soll das gehen?).

Gerade in einer Zeit, in der so oft formelhaft vom kulturellen Umbruch die Rede ist, begeben sich einige Promis und Halbpromis, Entertainer und Meinungsbildner auf das literarische Feld. Die Häufung ist nicht zuletzt das Resultat einer Selbstüberschätzung, die unsere Gesellschaft stützt, indem sie die Simulation von Wissen und Fähigkeiten fördert, und die Folge neoliberaler Markthörigkeit.

Was sich in einer Verpackung verkauft, lässt sich mit dem Markennamen in einer anderen Verpackung nochmals verkaufen. Die Marketingstrategie trifft sich mit der Ermächtigung von Arrivierten, die auf ihrem Feld die Karriere abgesichert oder abgeschlossen haben, sich auf ihre Netzwerke stützen und nun meinen: Der feine Unterschied bin ich selber.

Marktkonzentration

Wenn Ego und Ansehen groß erscheinen, braucht man sich für den Roman nicht um ansehnliche Einbildungskraft bemühen. Es genügt, in den Kreisen des eigenen Ich zu bleiben. Die Konzentration im Betrieb entspricht der Konzentration auf dem Markt, der immer mehr Bücher von immer weniger Leuten ins Schaufenster stellt. Mit Nischen geben sich die Feuilletongrößen ohnehin selten ab.

Sie suchen vielmehr der charismatischen Repräsentation des Schriftstellers als Schöpfer teilhaftig zu werden, erklärt Pierre Bourdieu, bezieht sich damit freilich auf die Zeiten von Flaubert oder von Sartre und Camus. Heute aber schwindet das symbolische Kapital der Literaten sowie der literarischen Formen.

"Die Tatsache, dass jedermann meint, einen Roman schreiben zu müssen, zeugt von einer völligen Unterschätzung der Komplexität der Form und führt zu einer Banalisierung der Literatur", sagt Ilija Trojanow. Die literarische Prosa stehe vermeintlich leicht zur Verfügung; auf die Idee, mit seinem bekannten Namen könne man gut eine Oper schaffen, komme hingegen keiner.

Eine weitere Verdünnung fördern Kritiker der Kritikerbücher, die das – bestenfalls – Mittelmäßige als "großen Wurf" ausrufen. Sie banalisieren damit nicht nur Formen, sondern auch die Literaturkritik. Dieselben, die das Verschwinden der Kultur in der flachen Unterhaltung beklagen, tragen selbst dazu bei, Komplexität ins Eck zu stellen.

Der "totale Intellektuelle", meint Bourdieu, verkörpere die Illusion von der Allmacht des Denkens. Die Kumulierer fördern hingegen heute die Illusion von der umfassenden Verfügbarkeit, ob von simpler Unterhaltung oder von tiefgreifender Sprachkunst.

Bei konsequenter Weiterführung des Kumulierer-Mechanismus könnte sich in Klagenfurt die Konstellation umdrehen. Alte Kritiker würden beim Bachmann-Wettbewerb antreten, um aus ihren Debütromanen zu lesen, und Schriftstellerinnen würden entsprechend urteilen. (Klaus Zeyringer, Album, 4./5. 7. 2015)