
Samstag, 9:34, Sportplatz Marswiese
Über das Wetter jammern ist langweilig. Das kann jeder – sogar vom Gastgarten aus. Sich aber trotz angekündigter Temperaturen nahe der Kernschmelze an einem Samstagvormittag auf der Marswiese zum Bahntraining zu treffen, ist schon ein bisserl was anderes: Bahn heißt Tempotraining. Intervalle. Oder sonst was Heftiges. Und wenn man schon beim Einlaufen am Eingehen ist, ist eines klar: Das wird heute kein Spaziergang – und morgen auch nicht. Denn für Sonntag stehen zweieinhalb Stunden am Plan. Locker zwar – aber bei mehr als 30 Grad ist das auch schon wurscht.

5:12 Uhr, Museumsquartier
Wer an Tagen, an denen Temperaturen knapp unter 40 angekündigt sind, lang laufen will, sollte früher los. Also wirklich früher. Also zu jener Zeit, in der die Stadt knapp vor dem Schichtwechsel steht: Vor den Putztrupps, die die Spuren camouflieren, die eine ganz normale Sommernacht in der Stadt hinterlässt …

5:14 Uhr, Maria Theresien Denkmal
… und auch jene "Spuren" noch nicht "geputzt" sind, die der Wohlstandsbürger in seiner Wohlstandsstadt so gar nicht wahr haben will. Auch das ist Wien.
5:17, Diskothek Volksgarten
Die, die um diese Zeit noch wach sind, haben für Dreck oder Armut kein Auge. Jetzt zumindest nicht. Ich weiß nicht, wie oft ich selbst einer dieser Durchmacher war – und kann mir heute auch nicht mehr erklären, was mich früher daran so gereizt hat. Aber: Es war, wie es war. Und es war gut. Aber es ist auch gut, da rausgewachsen zu sein.
5:19 Uhr, Parlamentsrampe
Hinter mir, auf den Treppen zur Säulenhalle des Parlamentes, sitzt ein Pärchen und wartet auf den Sonnenaufgang. Sie winken mir zu, haben mich aber schon vergessen, während sie es tun: Den Moment, wenn die Sonne sich über die Giebel und zwischen die Türme schiebt wollen sie nicht versäumen. Ich auch nicht. Aber bis dahin ist noch Zeit. Und da will ich nicht stören.
5:26, Kohlmarkt
"Die Stadt gehört Dir", werben die Wiener Linien. In der Früh gilt dieser Satz im Wortsinn: Den Kohlmarkt gibt es ohne Touristenmassen (oder Lieferwägen am Vormittag) nur sehr selten …
5:29, Stephansplatz
… aber die Strecke Kohlmarkt, Graben und Stephansplatz zu laufen, ohne dabei auch nur auf einen einzigen anderen Menschen zu treffen, habe ich noch nie erlebt. Aber: Nein, ich fühle mich nicht, wie Thomas Glavinic in "Die Arbeit der Nacht". Ganz und gar nicht.
5:38, Urania
Denn ich musste ein bisserl mitdenken: Nicht, dass ich es wirklich geplant hätte – aber den Sonnenaufgang wollte ich nicht versäumen: Genau im richtigen Augenblick bei der Urania zu sein, war zwar einfach nur Glück – aber man kann sich im Nachhinein dann schon auch einreden, das genau so getimed zu haben. Tut ja niemandem weh.
5:40 Uhr, Donaukanal auf Höhe Franzensbrücke
Ich mag Graffitis. Bilder wie Texte. Auch wenn da natürlich manches einfach Müll oder für mich unpassend ist, findet sich doch immer wieder etwas, was ich gerne mitnehme. Wien ist eine Stadt der nörgelnden Grantler – und ich wusste schon beim Vorbeilaufen, wem ich dieses Bild widmen würde.
5:51 Uhr, Hundezone Prater
Am Abend zuvor, beim Abkühl-Spaziergang und Gelsenfüttern mit dem Hund durch den Prater, habe ich die Jungs & Mädels beim Aufbau ihres Soundsystems in der Hundezone an der Liliputbahn "erwischt". Sie forderten auf einem Transparent zwischen den Bäumen "Freiräume" – und haben natürlich überhaupt gar kein Naheverhältnis zu den Wagenplatz-Leuten, die derzeit hinter einem Bretterverschlag am Trabrennparkplatz daheim sind. Jetzt räumen sie auf. Tatsächlich so, dass kein Papierfuzzerl zurück bleibt. Ich bin beeindruckt. Denn als ich damals – im anderen Leben – mit diversen mobilen Soundsystems hin und wieder unterwegs war, galt "hinter uns die Sintflut": Irgendwer musste den Dreck ja wegspülen – warum also nicht gleich Gott?
6:00 Hauptallee, Höhe Südosttangente
Langsam tauchen andere Morgensportler auf. Ein paar Radrenngruppen. Nordic Walker. Vereinzelt die ersten Läufer. Und dieser Kollege: Am Tretroller legt er ein ordentliches Tempo vor – und ist leider so schnell, dass sich der Rückspiegel, den er an den Helm montiert hat, im Foto verspielt: Als ob den so viele Leute überholen würden …
6:28 Hinter der Galopprennbahn Freudenau, Höhe Seitenhafenstraße
Halbzeit. Am Weg hier heraus, am Donaukanal-Damm neben der Galopprennbahn, hat die Sonne die Baumwipfel überklettert. Fast schlagartig ist es nicht mehr einfach nur angenehm warm. Kurz hatte ich überlegt, den Kanal bis zur Freudenauer Hafenbrücke hinunter zu laufen und dann über das Kraftwerk Freudenau und die Insel hinauf zur Alten Donau: Eine schöne Route – aber ich bleibe dann doch lieber im Schatten.
6:37 Uhr, Unterer Prater, Krebsenwasser
Zurück geht es daher durch den unteren Prater. Ein Traum. Rehe und Reiher – aber (noch) keine Reiter. Und auch sonst keine Menschen: Nicht einmal die diversen Tier-Fotografen sind an den "üblichen" Plätzen zu sehen. Obwohl gerade die sonst eher sehr früh unterwegs sind.
6:55 Uhr; Hauptallee, Höhe Stadionparkplatz
Der Tag beginnt Fahrt aufzunehmen. In ein paar Stunden wird hier einer der Läufe des Sommerlaufcups starten. Ob ich Lust hätte, mitzulaufen, fragt eine der Aufbau-Mitarbeiterinnen. Es gäbe auch eine Halbmarathonwertung. Ich mache ihr ein Angebot: "Wenn ich die 18 Kilometer, die ich schon in den Beinen habe, gutgeschrieben bekomme: Gerne." Wir lachen beide.
Später am Tag erzählt eine Freundin, dass sie hier heute die sieben Kilometer gelaufen sei: "Drei wären bei der Hitze genau richtig gewesen."
7:11 Uhr, Donaukanal, Höhe Urania
So, das wäre jetzt also die Halbmarathondistanz. Fernab von jedem Wettkampf- oder sonstwie ernst gemeinten Tempo. Aber wunderschön. Obwohl die Sonne noch nicht hoch steht, spüre ich, wie sie sich im Nacken durch den vom Schweiß aufgeweichten 50er-Sonnenschutz beißt. Wurscht: das geht sich aus.
7:21 Uhr, Stephansplatz
Das Model tänzelt. Der Fotograf lacht. Das Licht ist super – und die störenden Passanten sind noch nicht mal aus den Betten geklettert. Ob ich das Motiv "klauen" darf? Na klar – solange ich es nicht an die Vogue verkaufe. Na gut, ausnahmsweise.
7:37 Uhr, Mariahilfer Straße, Höhe Neubaugasse
Immer noch prägen übriggebliebene Nachtvögel das Straßenbild. Die meisten sind so betoniert, dass sie auch einen Hydranten auf ein Bier einladen würden. Oder zum Weiterfeiern mitnehmen wollen. Sorry Jungs, aber ich bin raus.
7:38 Uhr, Mariahilfer Straße, Höhe Otto Bauer Gasse
Schlussbild. Die Stadt wacht auf. In ein paar Minuten wird irgendwer das obdachlose Paar wegstampern. Ich hoffe, dass das zumindest höflich über die Bühne geht. Der Anblick tut trotzdem weh: Die beiden schlafen jede Nacht vor einem der Schaufenster in der Fußgängerzone – und sie sind verdammt jung.
Exakt zwei Stunden 30
Lockeres Tempo. Stressfrei. Ein paar Fotostops: 25 Kilometer sind sich ausgegangen – und für die meisten Leute hat der Tag hat noch nicht einmal angefangen: Duschen, Frühstücken – und dann ab ins Wasser. Es wird nämlich heiß. Verdammt heiß. Aber: Übers Wetter jammern gilt nicht. (Thomas Rottenberg, 10.7.2015)