Das Spiegelbild der Wolken tanzt auf dem Wasser, als die MS Fram über den stillen Nissersee tuckert. Mit 36 Kilometern Länge ist er der größte See in der norwegischen Provinz Telemark. Am Ufer lockt eine nahezu unberührte Wildnis. "Für Tiere scheint das Gewässer eine Art natürliche Grenze zu sein. Im Osten sind die Rentiere zu Hause, im Westen leben die Elche", sagt Sigmund Straand. Dem wikingerblonden Norweger gehört das Schiff auf dem Nisser und im 220 Einwohner-Dorf Vrådal ein Hotel, das sein Ururgroßvater vor 100 Jahren gebaut hat. Zu dieser Zeit war Vrådal ein Knotenpunkt für den Warenverkehr.

Weltwunder für Norweger

Bevor die Fram als Ausflugsschiff umgestaltet wurde, transportierte sie Holz auf dem Telemarkkanal, eine halbe Autostunde weiter nördlich. Dieser Kanal wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, um Vieh, Lebensmittel und Holz von Ost- nach Westnorwegen zu flößen. Die 105 Kilometer lange Wasserstraße von Skien bis Dalen galt mit ihren 18 Schleusen als achtes Weltwunder – zumindest in Norwegen.

Der Berg Gaustatoppen in der norwegischen Region Telemark macht frühmorgens auf Ayers Rock.
Foto: Monika Hippe

Im Sommer schippern nunmehr bis zu 250 Schiffe pro Tag auf dem Kanal durch eine bezaubernde Bergwelt. An der Schleuse in Eidsfoss klettert gerade die MS Henrik Ibsen Zentimeter für Zentimeter hinunter. Dabei kratzt das Schiff beinah mit den Flanken an den Steinmauern. Den Passagieren macht das nichts aus, sie winken und finden das Spektakel ganz großartig. In einigen Minuten werden sie wieder an Höhe gewinnen. Dafür muss Schleusenwärter Nils Tore Savertsen erst die orangefarbenen Hebeln per Hand bedienen. "Das hat schon mein Großvater so gemacht", sagt Nils.

Norwegen wie im Bilderbuch

Die Telemark steht seit jeher für ein Norwegen wie aus dem Bilderbuch. Anzuschauen gibt es unter anderem die ehemaligen Bauernhäuser mit ihren Grasdächern, die vom Leben vergangener Generationen erzählen. Manche dienen als Kulturerbstätte wie das Freilichtmuseum Evjunet in Gvarv. Dort begrüßt Jorid Vale Gäste auf der Veranda – singend. Ihre Stimme schwebt hinaus bis in den Wald. "Ein ganz altes Lied – damit hat man früher die Tiere in den Stall gerufen", sagt sie.

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Drinnen fühlt man sich wie zu Urgroßmutters Zeiten. Fast alles ist aus schwerem dunklen Holz: der Tisch, ein Bett, wie für Zwerge gemacht; in der Zimmerecke ein Eisenofen. "Das stille Örtchen war damals draußen neben dem Stall. Als die Großmutter im Winter krank wurde, stellte man die Toilette auf Skier und platzierte sie neben dem Haupthaus, damit der Weg für sie nicht so weit war. Einmal blies der Wind so stark, dass die Skier samt Toilette und der alten Dame drauf bis zum See hinabsausten", erzählt Jorid.

Essen, das ungern reist

Während sie solche Geschichten serviert, kommt sie mit "kurzgereistem Essen" – so heißt Slowfood auf Norwegisch – in die Stube. Alles Zutaten aus der nahen Umgebung, hausgeräucherte Forelle, Eintopf mit Bohnen aus dem eigenen Garten. Dazu gibt es Sekt aus selbstgepflückten Himbeeren.

Das milde Mikroklima der Telemark ist dafür verantwortlich, dass hier Äpfel, Zwetschken und viele Beerensorten gedeihen. Die Region bekam deshalb den Spitznamen "Obstkorb Norwegens". Dabei findet die Sonne nicht unbedingt in jedes Tal. Das Städtchen Rujkan etwa, flankiert von steilen Bergen, spart sie oft aus.

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Die drei Spiegel, die so ausgerichtet sind, dass das Licht gebündelt auf den Marktplatz von Rujkan fällt.
Foto: APA/EPA/TORE MEEK

Die Norweger haben die Sonne allerdings mit einem Trick überlistet: Nach einer über 100 Jahre alten Idee baute man auf dem gegenüberliegenden Berg drei riesige Spiegel, die so ausgerichtet sind, dass das Licht gebündelt auf den Marktplatz von Rujkan fällt.

Top-Secret am Gipfel

Die größte Attraktion ist hier aber der 1886 Meter hohe Berg Gaustatoppen. Allein die Fahrt in der uralten Seilbahn bis zum Gipfel ist ein Erlebnis. Die Gaustabahn wurde 1959 gebaut, um Soldaten auf den Berg zu bringen, welcher im Kalten Krieg als Radar- und Funkstation diente. Wegen der strengen Geheimhaltungspolitik wussten selbst die Einwohner von Rujkan lange nicht, was da oben passiert.

Es ruckelt und scheppert, als die alte Gondel über dem Abhang schwebt. Oben angekommen,wartet ein Blick auf – gefühlt – ganz Norwegen. Tatsächlich reicht er im Osten bis zur schwedischen Grenze, im Süden bis zum Meer. Selbst die Hochebene der Hardangervidda sieht von hier oben winzig aus. An den Felsen vor einem erkennt man noch die wellenförmigen Riffeln, die bei der Gebirgsbildung vor etwa 120 Millionen Jahren entstanden sind.

Wirklichkeit und Vexierbild

Früh am Morgen zeigt der Gaustatoppen, was er noch drauf hat: Die ersten Sonnenstrahlen lassen ihn rot erglühen wie den australischen Ayers Rock. Und auch diese Kulisse gibt es im Doppelpack: in der Wirklichkeit und als Vexierbild auf der spiegelglatten Oberfläche eines namenlosen Sees. (Monika Hippe, 14.7.2015)