Marcel Lichtenstein zeigt auf eine Gruppe grunzender See-Elefanten. Um ihn drängt sich ein Häuflein Menschen in dicken, knallroten Polarparkas und staunt über die tonnenschweren Meeressäuger. Der 42-jährige Costa Ricaner ist Naturforscher und steht auf dem steinigen Boden der Hannah Bay auf Livingston Island.

Das 1819 entdeckte Eiland liegt rund 100 Kilometer vor der Westantarktis. Im 19. Jahrhundert kamen Walfänger und Robbenjäger hierher, heute sind es Touristen. Menschen sehen die Tiere so gut wie nie, Angst haben sie keine. Das hier ist ihr Territorium, das machen die See-Elefanten laut grunzend klar. Das hier ist die Antarktis.

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Die See-Elefanten auf Livingstone Island haben keine Scheu vor Menschen, die nur selten hierherkommen. Die größten Robben können bis zu sechs Meter lang und vier Tonnen schwer werden.
Foto: Corbis/Paul Souders

Livingston Island ist auch der Schauplatz erotischer Eskapaden: "Hier habt ihr die antarktische Schmiele und den Perlwurz", sagt Lichtenstein begeistert. "Schaut euch um, das ist der lebensfeindlichste Ort des Planeten. Aber diese beiden wachsen hier trotzdem. Sie sind die beiden einzigen Pflanzen des Kontinents, die sich über Samen vermehren. Diese beiden haben Sex in der Antarktis!" Gebannt blicken die Touristen auf den Boden, als müsse dort gleich Ungeheures passieren: freie Liebe unter dem Gefrierpunkt. Doch die beiden Graskissen zittern nur leicht im Wind.

Die Gefahren scheinen beherrschbar zu sein

The last frontier, die letzte Grenze der Zivilisation – die Antarktis hat Entdecker und Abenteurer seit jeher fasziniert. Der Norweger Roald Amundsen und der Brite Robert Scott lieferten sich 1911 ein für Letzteren tödliches Rennen darum, als erster Mensch den Südpol zu erreichen. Über ein Jahr steckten der Abenteurer Ernest Shackleton und seine Männer 1916 im Packeis des Weddell-Meeres fest – nur wenige 100 Kilometer von Livingston Island entfernt – dort, wo jetzt ein Kreuzfahrtschiff liegt.

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Punta Hanna auf Livingston Island.
Foto: AP/Natacha Pisarenko

Seit ausgeklügelte Satellitennavigation und präzise Wettervorhersagen die Gefahren rund um den Kontinent beherrschbar erscheinen lassen, wird der antarktische Kontinent bei Touristen immer beliebter. Rund 40.000 Urlauber pro Jahr leisten sich das ebenso exklusive wie teure Vergnügen, mit Kreuzfahrtschiffen diese abgeschiedene Welt zu besuchen. Tendenz steigend.

Ist das gut für das Ökosystem am Ende der Welt? "Der Tourismus ist aus unserer Sicht von zwei Seiten zu betrachten: Zum einen freuen wir uns über das Interesse, die Region zu erkunden, um deren Naturspektakel zu begreifen", sagt Tim Packeiser, Meeresschutzexperte beim World Wide Fund For Nature (WWF). "Allerdings hat der Tourismus in den letzten Jahren stark zugenommen. Da treten Fragen auf: Wie werden die Reisen organisiert, welche Vorschriften gibt es für Besucher?"

Ein Kreuzfahrtschiff in der Andvord-Bucht im Norden der Antarktischen Halbinsel.
Foto: Michael Marek

Seit der Jahrtausendwende hat die Internationale Vereinigung der Antarktis-Reiseveranstalter, kurz IAATO, die Regeln für das Betreten der Antarktis erheblich verschärft. Die IAATO agiert vor Ort völlig autark, da die Antarktis nach dem Völkerrecht niemandem gehört. Seit 2006 dürfen, wenn sie einen der rund 160 festgelegten Landeplätze der Antarktis besuchen wollen, nur noch kleinere Motorschiffe mit geringem Tiefgang und maximal 200 Passagieren an Bord bis zu 100 Touristen gleichzeitig an Land bringen. Schiffe mit über 500 Passagieren dürfen gar keine Landgänge mehr durchführen. Zurzeit sind nur 25 Kreuzfahrtschiffe bei der IAATO für Landgänge registriert.

Expedition im Schlauchboot

Sechs Uhr früh, nach einer wilden Überfahrt durch die Drakestraße, liegt die Wilhelmina Bay am Nordende der Antarktischen Halbinsel in absolutem Frieden da. Die Wasseroberfläche ist glatt wie ein Spiegel, die Passagiere haben sich an Deck versammelt. Start zur ersten Expedition, wie die täglichen Ausflüge in den robusten Schlauchbooten des französischen Kreuzfahrtschiffes heißen.

"Wir werden eure Stiefel dekonta minieren, indem ihr durch eine Wanne mit Desinfektions mittel geht. Und es werden keine Lebensmittel mit an Land genommen!" Rafael Sané, ein drahtiger junger Franzose mit Vollbart, ist der Expeditionsleiter. Er fasst die Regeln zusammen, die jeder strikt befolgen muss, der antarktischen Boden betreten will: "Natürlich wird nichts, was wir mitbringen, dort gelassen und nichts von dort mitgenommen. Keine Pflanzen, keine Steine, keine Tierknochen. Das Einzige, was ihr mitnehmen dürft, sind Fotos."

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Eine Gruppe Adeliepinguine gleitet von einem Eisberg ins Polarmeer vor der Antarktischen Halbinsel.
Foto: Corbis/AlaskaPhotoGraphics/Patrick J. Endres

Wie Hühner auf der Stange drängen sich zehn Vermummte auf den Gummiwülsten des Zodiacs. Ein dünner Schleier aus eisigem Meerwasser überzieht die Passagiere. Glasklar ist die Luft in der Wilhelmina Bay. Wie zersprungenes Glas treiben kleine Eisschollen in der Bucht, das Schiff liegt verloren in dieser lautlosen Weite. Touristen und Guides spazieren zwischen Pinguinen und ihren Jungen herum.

Während der zehn Tage, die das Schiff durch diese Inselwelt kurvt, bekommen die Passagiere nur ein weiteres Kreuzfahrtschiff aus der Ferne zu sehen. Nach mehreren Havarien erklärte die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO, eine UNO-Agentur, die Gewässer südlich des 60. Breitengrades 2011 zum Sperrgebiet – für alle Schiffe, die mit billigem Schweröl fahren und einen enorm umweltschädlichen CO2-Ausstoß haben. Seither dürfen nur Schiffe, die teureres Leichtöl verbrauchen, in die Region.

Logbücher für alle Landungen

Penibel führen Sané und seine Kollegen Protokoll über alles, was ihnen während einer Expedition auffällt. Jeder noch so kleine Vorfall wird in ihren IAATO-Logbüchern vermerkt: Wenn neue Gletscherspalten auftauchen, wo Touristen an Land gehen. Sogar wenn ein Vogel aus irgendeinem Grund auf dem Kreuzfahrtschiff landet, wird das gemeldet. Alles, damit die IAATO zu jedem Zeitpunkt einen genauen Überblick darüber hat, ob es Umwelteinflüsse durch Schiffe und ihre Passagiere gibt und bestimmte Landeplätze daher nicht mehr aufgesucht werden. Nach Saisonende gibt es darüber eine dicke Akte, die von jedermann eingesehen werden kann.

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Ein Eisberg in der Nähe der Byers-Halbinsel.
Foto: AP/Natacha Pisarenko

IAATO-Prüfer kommen regelmäßig an Bord der Schiffe, um die Einhaltung der Regeln zu kontrollieren. 29 Kreuzfahrtschiffe, die mit leichtem Schiffsdiesel betrieben werden, sind zurzeit IAATO-Mitglieder – aber eben nicht alle. Schätzungsweise ein paar tausend Touristen pro Jahr werden von Schiffen an Land gebracht, die nicht der Vereinigung angehören.

Sie unterliegen dann nur den Vorschriften der IMO und den Kontrollen durch die Länder, unter deren Flagge sie registriert sind – und diese dürften, vermutet Expeditionsleiter Rafael Sané, oft lax sein. "Der Tourismus ist nicht die Hauptbedrohung für die Antarktis", meint Sané. "Die Versuchung, die Bodenschätze auszubeuten, ist weit größer: Kohle und andere wertvolle Rohstoffe unter dem 4000 Meter dicken Eispanzer, Öl und Gas im Meer."

Verhandlungen gescheitert

"Die aktuell größte Bedrohung ist aus unserer Sicht die kommerzielle Fischerei", meint wiederum Tim Packeiser vom WWF. "Zum einen geht es um verschiedene Fischarten, die bedroht sind. Zum anderen gefährdet der massive Fang von Krill das gesamte Ökosystem". Die Krebstiere sind fundamentaler Teil der Nahrungskette. Ohne Krill keine Wale, keine Robben, Pinguine und Seevögel.

Als 2013 die Chance bestand, mit 2,4 Millionen Quadratkilometern in der Rosssee und 1,6 Millionen Quadratkilometern im ostantarktischen Südpolarmeer die größte Meeresschutzzone der Welt zu schaffen, scheiterte das Projekt. Russland und die Ukraine, beides Nationen, die erhebliche Mengen Krill in antarktischen Gewässern fischen und damals noch nicht verfeindet waren, ließen die Verhandlungen scheitern.

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"Ihr dürft von hier nichts mitnehmen – nur Fotos".
Foto: Corbis/Paul Souders

Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das jeden ergreift, der die Antarktis besucht. Was Menschen vor 100 Jahren sahen, sieht heute noch genauso aus. Ein Raum, immens groß, an dem die industrielle Revolution, Kultur- und Religionskämpfe, heiße und kalte Kriege, das Internet, Reichtum und Armut spurenlos vorbeigingen.

Abends sitzt Marcel Lichtenstein beim Bier in der luxuriösen Lounge des französischen Kreuzfahrtschiffs. Allein, ohne Publikum, sein Arbeitstag ist vorbei. Spaßmacher Marcel ist müde, nur der Philosoph Lichtenstein ist noch hellwach. "Das ist uns Menschen so fremd: Hier sind wir nicht länger Bürger eines Landes. Wir sind Bürger eines Planeten. Und solange kein Land dem anderen etwas gönnt, wird sich am gar nicht so üblen Status quo der Antarktis nichts ändern." (Michael Marek, Sven Weniger, Rondo, 23.7.2015)