Indigene Kultur trifft moderne Kunst: Unter dem Titel "Aru Kuxipa / Sacred Secret" lässt der Bildhauer Ernesto Neto Besucher des TBA21 an seinem Dialog mit den südamerikanischen Huni Kuin teilhaben.


Foto: Jens Ziehe / TBA21

Für seine "Copulônia" (1989/2009) verwendet Ernesto neto keine Nägel oder Schrauben. Er möchte die Teile zu einem "natürlichen Kontinuum" verbinden.

Foto: Eduardo Ortega / Courtesy Galeria Fortes Vilaça, São Paulo

Wien/Krems – Wer sich die Schuhe auszieht, ist – wie es so schön heißt – zur Interaktion eingeladen: mit jener riesigen Schaukel, die derzeit in der Kunsthalle Krems hängt. Sie ist grobmaschig aus dicken Kunststoffseilen gehäkelt und formt fünf kokonartige Kojen, deren Liegeflächen mit Plastikbällen gepolstert sind. Interagieren kann man dabei auch mit anderen Besuchern. Jede Bewegung wirkt sich nämlich auf das große Ganze des frei schwingenden Geflechts aus.

Das ist für den brasilianischen Künstler Ernesto Neto das Entscheidende an seiner Arbeit Velejando entre nós (2013, dt. "Zwischen uns segelnd"): Sie soll spielerisch erlebbar machen, dass "alles irgendwie miteinander verbunden" ist, sich berührt und beeinflusst. Hierin liegt ein Schlüssel zum OEuvre Netos, der derzeit nicht nur in Krems mit einer Retrospektive, sondern außerdem in der Wiener TBA21 (Thyssen-Bornemisza Art Contemporary) und – mit einem Einzelobjekt – auch im Oberen Belvedere vertreten ist. Alles drehe sich bei ihm um Beziehungen, erklärte er einmal.

Ganzheitlich gedachte Kunst

Viele Arbeiten sind so konstruiert, dass man schwerlich ein Element entfernen könnte, ohne das Ganze zum Zerfallen zu bringen. In der frühen Serie A-B-A [chapa-corda-chapa] von 1987 verband Neto etwa Holzstücke zu fragilen Skulpturen, die durch Seile in der Schwebe gehalten werden. Eine wesentliche Partnerin fand Neto bereits damals in der Gravitation.

Beziehungen spielten schon in frühen Arbeiten Netos eine entscheidende Rolle – wie in der Serie A-B-A [chapa-chorda-chapa] aus dem Jahr 1987.
Foto: Gabriela Toledo

Die Schwerkraft – die Neto dafür schätzt, dass sie keine kulturellen Grenzen kennt – hat auch seine charakteristische Formensprache mitbestimmt. Typisch ist die Methode, textile Hüllen, etwa aus Lycra (dem Strumpfhosenmaterial), mit Styropor- oder Bleikügelchen zu befüllen. Eine Form lässt sich dabei nur bedingt festlegen. Entscheidend ist jeweils das Kräftespiel zwischen Gewicht und elastischer Hülle.

Das Ergebnis sind tendenziell weiche, runde, organische Formen: Hier spannen sich vermeintliche Damenstrümpfe elegant von der Decke zum Boden, um in bleigefüllten Füßchen oder Saugnäpfchen zu enden. Dort arrangieren sich Abertausende von Styroporkügelchen, eingefasst in eine Haut aus Feingewebe, zum raumgreifenden, geschwungenen "Skelett". Über das Körperhafte seiner Objekte möchte Neto, der die Natur als "unsere Lehrmeisterin" ansieht, wiederum Beziehungen zwischen den Menschen knüpfen.

In manchen Rauminstallationen Netos – im Bild die in Krems zu sehende Arbeit Paxpa – There Is a Forest Encantada Inside of Us (2014) – fühlt man sich wie im Bühnenbild zu einer Reise ins Innere des menschlichen Körpers.
Foto: Christian Redtenbacher

Weiche, duftende Formen

Aber auch mit Aromen bekräftigt er seine Absicht, die Sinne anzusprechen: Manche Objekte sind mit Gewürzpulver befüllt. Kurkuma, Nelken oder Kreuzkümmel duften dabei nicht nur – sie konterkarieren außerdem die glatten Konturen seiner Objekte visuell mit sattfarbigen Pulverspritzern.

Der Kontrast zwischen artifiziell und erdig verweist auch auf den ideengeschichtlichen Kontext seiner Arbeit. Geboren 1964 in Rio de Janeiro, fand Neto wichtige Wegbereiter im Neokonkretismus und der sogenannten Tropicália: Strömungen, die in den 1950er- bzw. 1960er-Jahren begannen, sich die politisch instrumentalisierte rationalistische Kunst neu anzueignen, also konstruktivistisch-geometrische Ansätze um Gefühl, Sinnlichkeit und Subjektivität erweiterten. Neto brachte dabei nicht nur Körper und Skulptur zusammen, er beschäftigte sich auch mit Freuds Psychoanalyse oder vorwissenschaftlichen Kulturen, etwa dem Indigenen-Stamm der Huni Kuin.

Videos projiziert Neto auf Fell, um das Technoide zu brechen. Obiges Still stammt aus einem 2014 gedrehten und in Krems zu sehenden Video, in dem Stammesmitglied Fabiano Txana Bane das Lied Nuku Mana ibubu für die Skulptur Kauernd des Dadaisten Hans Arp singt.
Foto: Mick Vincenz

Im Dialog mit vorwissenschaftlichen Kulturen

Die Südamerikaner stehen im Zentrum seiner ungleich atmosphärischeren Schau in der TBA21. Netos Skulpturen treffen dort auf Trommeln, Gefäße oder Instrumente der Huni Kuin. Stellenweise verschwimmen die Grenzen zwischen dem Werk der einen und des anderen: Netos geknüpfte Netze könnten ebenso rituelle Gegenstände sein. Auch dieses Environment ist ein Angebot zur sozialen Zusammenkunft. Weich gepolstert sitzt man vor Videos, in denen Stammesmitglieder Mythen erzählen. Dem Technoiden steuert Neto dabei entgegen, indem er auf Fell projiziert.

Das ist fast ein bisschen zu viel des Guten. Letztlich bleiben die minimalistischen Arbeiten aus seiner eigenen Hand überzeugender: Wohl deshalb, weil die Art von mystischer Versenkung, die sie anbieten, dem an der Ästhetik der Moderne geschulten Auge zugänglicher erscheint. Charmant ist Netos Versuch, dem Westler eine Verbindung zum Urgrund – oder zumindest ein Guckloch dorthin – zu schaffen, dennoch. Die Erlö- se eines Verkaufsstands kommen übrigens einer Wasseraufbereitungsanlage für die Huni Kuin zugute. (Roman Gerold, 28.7.2015)