Sehr geehrte Frau Bundesministerin Mikl-Leitner,

auf dem Fährschiff von der griechischen Insel Chios nach Piräus begegnete ich vergangenes Wochenende etwa 300 erschöpften Menschen, Frauen, Kindern und Männern, die sichtlich keine Urlauber waren. Als pensionierte Mitarbeiterin der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR kam ich schnell mit einigen von ihnen ins Gespräch. Sie waren aus diversen Ländern des Mittleren Ostens gekommen, in welchen so grausame Zustände herrschen, wie sie sich normale Österreicher kaum vorstellen können – es sei denn, er oder sie kann sich noch an die grauenvolle Nazizeit erinnern.

Die Darstellungen im Fernsehen und im Internet zeigen zwar einzelne, besonders dramatische Szenen, die aufwühlen. Die unzähligen öffentlichen Debatten auf allen Ebenen um die Flüchtlingspolitik sind notwendig. Während eifrig debattiert wird, vegetieren Millionen Menschen unter unsäglichen Bedingungen in Flüchtlingslagern oder auf mittlerweile vieldokumentierten illegalen Fluchtwegen. Das Fernsehen kann allerdings nur ungenügend die furchtbare Angst um das tägliche Überleben vermitteln.

Ich habe, als ich mich zu den etwa 300 todmüden Menschen auf das Schiffsdeck setzte und ihnen ein bisschen Menschlichkeit in Form von Gehörschenken zeigen wollte, ihre Angst, Einsamkeit, Verlorenheit und Verzweiflung gerochen. Viel konnte ich ihnen nicht anbieten. Das zunächst erstaunte, aber dann doch hilfsbereite griechische Personal der Schiffscafeteria half mir, Getränke und Sandwiches zu verteilen. Auf die Frage der eingefallenen, aber dankbaren Menschen, woher ich, eine private Urlauberin, denn komme, sagte ich, "Aus Österreich" – und damit ist unser Land vielleicht mit einer kleinen freundlichen Erinnerung im Tunnel des furchtbaren Schicksals dieser Leute, denen zufällig so eine kleine Hilfestellung zuteilwurde, verbunden.

Die vierzehnjährige Zahra war in Damaskus geboren. Ihre Eltern waren aus dem damals von den Taliban beherrschten Afghanistan nach Syrien geflüchtet. Zahra sprach außer einigen anderen Sprachen auch hervorragend Englisch. Sie sagte mir, sie wolle viel lernen und alles daransetzen, dass ihren Landsleuten in Zukunft solches Elend, wie sie, ihre Familie und ihre Landsleute generell auf der Flucht vor Verfolgung, Krieg, Hunger, Ertrinken oder Tod erleben müssen, erspart bleiben solle.

Frau Bundesministerin, sicherlich kann nicht ein einziges Land alle Flüchtlinge aufnehmen. Das ist unmöglich. Aber wieso verlangt man genau das von Griechenland, das selbst am Rande des Abgrundes steht? Über 100.000 Menschen sind allein in diesem Land seit Jahresbeginn angekommen – abgesehen von den vielen, die auf dem Weg hierher den Tod fanden.

Wieso spricht man von europäischer Solidarität, wenn es um die Rettung europäischer Banken geht? Wieso spricht man nicht von Solidarität, wenn es um Menschlichkeit, um die Rettung von unschuldigen Menschen geht? Hat Österreich aus den Verfolgungen im Laufe der eigenen Nazivergangenheit nichts gelernt?

Ich sage das als Kind von Eltern, deren Familien selbst Opfer des Naziterrors waren. Drei Viertel unserer Familie sind umgekommen, meine beiden Eltern haben um ein Haar überlebt, sie und ihre Familien sind durch Vertreibung, Deportation, furchtbare Lager, durch Zwangsarbeit, Hunger und Folter gegangen. Wir wissen, was Verfolgung bedeutet. Wir wissen, wie wichtig es ist, dass Rettungsanker geworfen werden. Wir wissen, was es bedeutet, Österreich wieder aufgebaut zu haben.

Wieso darf es sein, dass man in Österreich von Flüchtlingsquoten spricht? Der Krieg kennt keine Quoten. Kriegsanführer kennen keine Quoten. Verfolger kennen keine Quoten. Und, nebenbei gesagt, Schmuggler auch nicht.

Debatte über Menschlichkeit

Frau Bundesministerin, wir als Österreicher sollten federführend sein in einer europaweiten Debatte über die Menschlichkeit. Lassen Sie doch diese lächerlichen Quoten. Was sollen Länder wie Griechenland oder Italien mit Quoten anfangen? Sollen sie die Leute, die da in ihre Gewässer kommen, quotenweise ertrinken lassen? Werden die in Europa hergestellten Waffen in Quoten in Kriegsgebiete verschickt?

Die so um ihre privilegierte Stellung bemühten Europäer errichten Zäune, schaffen unmenschliche Bedingungen zur Abschreckung möglichst vieler Unwillkommener, statuieren Exempel und reden erzürnt und entschlossen von strafrechtlicher Verfolgung von Menschenschmugglern.

Und die Wirklichkeit? Die Menschen kommen, und zwar in Strömen. Hunderttausend bereits im ersten Halbjahr durch Griechenland, wo der katastrophale nationale Schuldenberg weltweit monate-, ja jahrelang, exklusiver Dauerbrenner der Medien und Politiker war.

Weicher Bauch Europas

Niemand hat sich für die genau gleichzeitig in dieses Land stolpernden verzweifelten Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia interessiert. Die Griechen – unter anderem auch Bewohner des, etwas despektierlich gesprochen, "weichen Bauches Europas" – sind natürlich wieder einmal selbst schuld, weil sie es offenbar nicht geschafft haben, die Problematik ausreichend zu thematisieren und als brennend wichtiges Element in ihre Europapolitik einzubringen. Selbst so ziemlich am Ende, winken sie die noch Verzweifelteren durch in Richtung "Europa".

Was soll eigentlich dieses Europa, wo Solidarität sichtlich nur auf das von der Großindustrie monopolisierte Bankwesen anwendbar ist? Was soll dieses Europa, das vor der Not und deren Folgen in angrenzenden Staaten, die unverhältnismäßig viele Flüchtlinge beherbergen (zum Beispiel sind allein im Libanon über ein Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge), blind ist? Das die Kriegsindustrie fördert? Das sich kurzsichtigerweise vor einer sowieso unaufhaltsamen demografischen Umwandlung schützen will, egal wie undemokratisch, faschistoid, grausam, menschenrechtswidrig und uneuropäisch die Mittel sind?

Frau Bundesministerin, bitte strengen Sie dringendst mit Ihren Amtskollegen, unter Einbeziehung internationaler, geeigneter Organisationen, eine ernsthafte Debatte an, in der Menschlichkeit endlich wieder an erster Stelle steht. Bauen Sie auf dem Erbe des aufatmenden Nachkriegsösterreich auf. Das sind wir den österreichischen und den internationalen Opfern des Nationalsozialismus schuldig. (Marion Hoffmann, 28.7.2015)