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Edgar Lawrence Doctorow (1931-2015) erzählt auf engstem Raum von Gott und der Welt: ein bizarres Vergnügen.

Foto: AP/Altaffer

Wien – Die Literatur kennt eine Vielzahl von Narren. Es gibt edle Tölpel, Toren, die man wegen ihrer bloßen Ungeschicklichkeit ins Herz schließt. Häufig genug stellt Naivität geradezu eine Grundvoraussetzung für gehobene Erzählkunst dar. Ein Romanautor gebraucht Sprachrohre umso lieber, je unverkrümmter sie sind.

Der Titelheld im letzten Roman des großen US-Autors E. L. Doctorow (1931–2015) ist aus verbogenem Holz. Von sich selbst erzählt Andrew am liebsten in der dritten Person. Sein Bericht in eigener Sache hebt reichlich großspurig an: "Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler."

Eine solche Einleitung ist ehrfurchtgebietend. Was jedoch folgt, ist eine kaum abreißende Kette von Pleiten, Pech und Pannen. Andrew vermeidet die erste Person Singular bewusst – es ist natürlich niemand anderer als er selbst, der da spricht. Versuche, unter den Bedingungen des American Way of Life ein erfülltes Leben zu führen, missraten ihm. Was noch schwerer wiegt, ist eine Unbedenklichkeit, die sich gegen die nächsten Mitmenschen wendet und für diese verderblich ist.

Falsche Dosierung

Andrew verliert die erste Frau, weil er das gemeinsame Kind noch im Säuglingsalter durch die falsche Dosierung eines Medikaments vergiftet. Ein Fehler des verschreibenden Arztes, doch sein Verschulden bekennt der Vater freimütig ein. Die zweite Gefährtin, ein blonder Cheerleader-Traum, schenkt ihm eine weitere Tochter. Briony, kaum halb so alt wie ihr neunmalkluger Mann, stirbt im Ascheregen von 9/11. Der wirre Wissenschafter packt die Babytrage mit dem halbverwaisten Kind und händigt das Würmchen seiner ersten Frau aus.

Mit der Übergabesituation an Marthas Haustür, einer Elegie in Schneeweiß, hebt E. L. Doctorows Schwanengesang als Romancier furios an. Der postmoderne Meister historischer Eulenspiegeleien starb erst unlängst, am 21. Juli 2015, an Lungenkrebs. Mit dem Erzähler von "In Andrews Kopf" gibt es keine Freundschaft zu schließen. Andrew ist der unerträglichste Besserwisser, der sich denken lässt. Das hat ausgerechnet mit dem Denken zu tun.

Leib- und Magenthemen

Die physiologischen Bedingungen unseres Denkens sind Andrews Leib- und Magenthema. Er fragt sich zum Beispiel, ob es nicht unser Gehirn ist, das selbsttätig diejenigen Entscheidungen trifft, die wir anschließend, als moralische Subjekte, zu vertreten haben. Sehr viel freimütiger kann man die Verantwortung für das eigene, häufig verkorkste Tun nicht an "unbekannt" abtreten.

Doctorow denkt jedoch um eine Ecke weiter. Unwillkürlich erinnert man sich an seinen Meisterroman "Ragtime" (1975), an den Auftritt Sigmund Freuds in New York. Hieß es nicht bereits damals, Freud hätte mit seiner Lehre vom Unbewussten die Sexualität in Amerika für immer zerstört?

Hinter der Einsicht in die desaströsen Folgen der psychoanalytischen Kur lauert der grämliche Karl-Kraus-Witz, wonach die Psychoanalyse die Krankheit ist, die sie vorgibt zu heilen. In Andrews Kopf sieht es erfreulich aufgeräumt aus. Der Grund für sein durchwegs "vernünftiges" Sprechen ist jedoch kein Verdienst, das er sich an die Fahnen heften könnte. Sein Gegenüber ist Psychiater. Andrew spricht als Hirnforscher von vornherein so, wie er glaubt, dass es von ihm erwartet wird. Aufrichtigkeit ist in der Erzählkunst kein Wert an sich.

Und so verwandelt sich Doctorows Alterswerk in eine Spiegelkammer. Jede erzählerische Fläche ist vom Hauch der Uneigentlichkeit wie beschlagen. Man registriert E. L. Doctorows Ehrgeiz, die US-Geschichte der letzten Jahre mit geringem Aufwand zu erzählen. Der schmale Roman strotzt vor Gekonntheit. Noch einmal öffnet der Zauberer seine Lade. Andrew, der aus lauter Ungeschicklichkeit andere Menschen "totdrückt", landet aufgrund einer bizarren Wendung im Weißen Haus. Er sitzt als Studienkollege (!) und Hofnarr George W. Bushs im Oval Office. Dort schneidet er den Beratern "Chaingang" und "Rumbum" Fratzen und landet im Narrenturm. Ein überkonstruiertes Buch scheitert an der Satire. Tölpel und Toren sind eben nicht von vornherein lustig.

Dennoch sollte man in Andrews Kopf vorbeigeschaut haben. (Ronald Pohl, 5.8.2015)