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11. 3. 2015: Japans Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko bei einem Gedenken zum Jahrestag der Fukushima-Katastrophe 2011.

Foto: APA/EPA/TORU HANAI

Ob es eine Blendung ist, eine Verblendung. Ein strahlendes Monster in Weiß, das den Blick zaudern lässt. Fuji, Fujisan, Fudschijama. Offenbart seine Pracht, seinen schneeweißen Schirm. Vom Himmel herab, zum Himmel hinauf. Die Füße im blauen Dunst.

Ob er revoltieren wird, eruptieren? Ob er befriedet ist, alt geworden, ein träger Feuerwerker im weißen Cape? Mahnt ihn die Göttin Asama zur Ruhe, die Augen geheftet auf ihn, auf jede Bewegung? Eingeschreint und befriedend, die Feuergöttin, im Rauch der Stäbchen halluzinogen, wie viele. Wehrt sie seine Ausbrüche ab oder tun es die Schreine, die Sengen-Schreine an seinen Hängen, die unzählig darin verglühenden Stäbchen?

Im Sog des Schauens: Die Wirbel drehen, spannen bis Musiken, Klänge, Töne, Tonkontinuen FA, Fasern aus Menschenwebe. Die Braue vage gehoben, den Blick geheftet, bis der Sternenhimmel, der riesige, kreisrunde Mond orangerot und der unrunden Erde ganz nah. Der Bonsai im Augenfenster knickt unter ihm.

Fudschijama: Von vielen wie vielen Malern gehalten, gemalt. Und doch in die Irre geführt. Oder in Worte gefasst: Schönheit. Als wäre sie zu fassen.

Fujisan: Durch Gezeiten geheiligt. Ruhe. Unruhe. Im Atem der Kontinente, in Dämpfen und Schwefelgestank. Gründe. Abgründe. Lichternetze über den Wassern: Gekräusel, wie Diamanten Geflüster Unsichtbar. Klingende Schellen, Handgelenke in Bewegung. Ein Klingen der Wipfel, der Lüfte, der Sinne.

Fuji: Der Vulkan. Ein Name. Nicht zu übersetzen, zu überschätzen. Erhaben im Stützmieder Frost. Ein Mönch, eine Mönchin, die ihn bestiegen, erstmals, egal wann. Bis zum Rand, in den Krater geblickt, der Flamme entgegen. Und doch bestanden, dem Sog widerstanden.

Ob es ein Taumel ist, eine Blendung. Die geneigte Gestalt schon zum Fallen bereit. Im Rauch der blassgelben Sonne irgendwo auf der Bahn, so früh am Morgen graute der Tag. Tokio Reflexionen. In die Irre geführt: Träume vom Monster in Weiß. Vom Drehen im Kopf an der fernöstlichen Krümmung. Vom Sound der Sprache, der Silben. Vom Zauber der Parks und dem tosenden Grün um den Kaiserpalast. Nach Feierabend der endlose Zug aus Joggern. Auf Beinen die halbe Stadt. "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede", sagt Haruki Murakami. Fettleibigkeit? Keine Spur. Von Kirschblüten nichts, nur im Kopf. Herbstluft atmet auf steinernen Brücken.

Die Alten in Gleichmut. Die Bänke belagert. Gehstöcke. Taschen. Die Udon-Nudelsuppe um dreihundert Yen. Gesichter verrunzelt. Yoga und Nickerchen. Worte. Geflüster. Mundbewegungen wie im Gebet unter grau-grauem Haar tiefliegende Augen, schräg hin zum Fuji.

Dann mit der Gondel bergan. Söunzan? Lieber nicht oder doch. Blick am Gondelfenster hinunterhinauf. Geschlossenen Auges in Räume hinein, in die Welten Asamas. Aus grünblauen Heimlichkeiten hinauf in weiße Segel aus Dampf. Weiße Boote, vom jähen Nass überrascht, vom dichten, windlosen Regen, von sanftkalter Feuchtigkeit bis zur hellsten Streuung des Lichts.

Dampf und Schwefel im Inneren. In die Irre geführt, die Wirklichkeit wie ein Riss, ein Riss durch den Stoff. Sichtbar gemacht, in kleinste Teile zerlegt, in Wellen aus Staub, der die Seen verstrahlt. Hellroter Staub, vom Fuji ausgeatmet. Was wirklich ist, was Symbol. Lass es sein. Ob es bewahren wird das Gedächtnis. Die Gründe und Abgründe. Die Atemfahne der Angst, das Pochen innen, im Korallenriff Blut. Was dich bewogen hat. Gehen. Ein paar Schritte noch bis zum Rand und dann. Ins Museum. Gibt Auskunft. Weiß über Flora und Fauna und Feuervögel im alten Gestein. Spuren frühester Sterne. Fossile Schnäppchen als Souvenir. Im Blick die andere Art. Religion egal, in den Strömungen Zeit, ob Shinto, ob Buddha. Vom Rummel fern, mittendrin. Ruhe finden, nach dem Schwefeltrip Söunzan.

Fuji, der Vulkan. Hinter dem Ashisee aufgespannt. Auskunft suchend vom Nordufer aus. Abgerissener Lebensbogen. Auseinanderdriftendes Land. Inselland. Abgründe. Risse, revoltierende Platten. Schwefelhaltige Krater. Land unter Feuer und Dampf.

NATURENERGIEN ohne Maß. Ungenutzt vergeudete Energie. Heiße Quellen und Dampf stiegen sie auf, ein ins Boot; halluzinogen, wie das geht, Sichtbarwerden, was lässt sich sehen. Kraterseen ohne Grund. Wellen, Kreise, Zeichen im Bild, das lange betrachtet wird. Luftblasen-Botschaften vom Land UNTER zerplatzen am Wasserspiegel des Ashi wie nichts.

Land unter den Füßen. Nakasime trotz Warnung. Menschendüfte durchwatet, Touristen. Was das ist, Mensch, die Seele, das Sein, die Substanz; im Sog des Schauens. Was echt, was falsch, was Scheitern, was Glück. "Ich liebe alle, die tief hinabtauchen", sagt Melville. Ein Aufwallen innen. Ein Steigen und Fallen der Worte und Sätze, durch Beugung gefügig. Verbeugungen über dem feilgebotenen Fetisch. Mehr ist nicht zu sagen. Denkbar jedes Detail. Kaufläden. Machtgerüche und Gier bis in den Tempelkomplex Sensoji.

Ob es eine Welle ist. Wellen aus Staub auf dem abdriftenden Weltachsenboden. Auf Stränden, Gebirgen, die eine Welle, nicht die von Kanagawa, die andere Welle, die ausgelöst hat: ausgelöscht. Nicht so lange her, Fukushima. Wellen, wie viele, egal. Störfälle, wie viele. Unweit von Tokio. In Meilen rund hundertfünfzig. Verwüstungswellen. Lass es sein. Dass es bewahren wird, das Gedächtnis. Im Schutt der Menschen. Tierkadaver. Jedwedem Leben danach. In Flora und Fauna. In den Seelen der Steine: "Steine zerfallen irgendwann und verlieren ihre Gestalt. Herzen aber zerfallen nicht", sagt Murakami. Herzschläge aktiv, radioaktiv. Der sanftkühle Regen verstrahlt. Das angereichert-verstrahlte Wasser, Brennstäbekühlwasser, Tonnen, wie viele, ins Meer gespült. Egal, ableiten, nennt das Tepco. Der Pazifische Ozean nimmt und gibt. Sein vergifteter Atem schlägt über, an die Ufer der Kontinente. Die Wale verendend. Selbstmörder am Strand. Kernschmelze nuklear. Atomares Fossil mit geschminkter Fratze.

Nichts ausgesprochen, nichts eingestanden. Verdrängt, verschwiegen. Verderben auf Zeit. Hier bebt fast täglich die Erde, mal da, mal dort, sagt der Herr mit Stock. Egal, sagt Tepco, es lebe die Kernkraft, das Leben geht weiter. Japans Regierung schweigt zur atomaren Gefahr. Die Mehrheit schweigt angesichts neuer Gefahren. Japans Medien schweigen. Was zu verlauten ist, bestimmt Tepco. Die Weltgemeinschaft schweigt angesichts alter Risken und neuer Gefahren. Am Wort bleibt Tepco, getrieben von Gier.

Tokio im strahlenden Alltag. Patinierte Hygiene. Aneignungen des Irrationalen. Das Reale im Akt. Aktenkoffer en masse. Tosen in-über den Köpfen. Netze aus Stelzen, Knoten: Autobahnknoten. Die Suche nach Plätzen, Ehrenplätzen. Ein Bauplatz zwischen zwei Hochhaustürmen. Erdmaterial mit Bagger, auch das: Bambusgerüste. Die Garnelen auf grilled Bambus. Köstlich, die Wonton-Nudeln, einst ein Gericht für die Arbeiterschicht. Der lauwarme Plumwine. Verbeugungen und Gewalt. Umsiedlungen. Aussiedlungen. Anmaßungen. Suizide tabuisiert. Die langsam beschleunigten Schritte im Chidiorigafuchi-Park. "Wovon ich rede, wenn", von der Jugend gelesen, geliebt: Murakami. Die sich hermetisch zeigende Jugend. Die lauten Gespräche, die Smartphones vor Lachen geschüttelt, die Windschattenblicke durchs Glas.

Die Welle im Kopf eine jähe Zäsur. Noch immer im Sprung darüber. Wie das geht. Zu nah daran. Nie weiß man, wo oder wann. Oder was ist hier noch real, und was spielte das für eine Rolle, jetzt, im Moment. Vier Jahre her und jeden Tag neu: Fukushima.

Verkehrsmittel öffentlich. Mit dem Shinkansen? Nein. Mit der Ginza ins Zentrum. Im Atem Tokios. Luxusliner aus Glas, hoch, wie hoch sich das Licht sträubt. Staubpartikel im Blick. Souvenirs made in China, überall und auch hier. Altes Pagodengewölbe, ältester Tempel, der Asakusa-Kannon, buddhistisch, 7. Jh. Und Schreine, ihre erhaben strahlende Ruhe ins strahlende Grün. Artefakte und Körperkünste aus Jade und Alabaster. Kunstschauwerte im Tokio-Nationalmuseum. Augenwonnen. Schönheit, als wäre sie zu fassen. Formeln und Sprüche. Mit Pinsel und Feder gehauchte Zeichen. Asiatische Kunst. Eintauchen, gefesselt vom Schauen. Soll ich dich kennen, berühren. Was hast du gesagt. Im Sprung über die Welle, mithilfe der Kunst.

Und die Zeit wie im Flug. Übermorgen zurück in die Zukunft. Letzter Versuch: Shinjuku, größter Bahnhof der Welt. Regierungsgebäude. Die Plattform queren zum Rand. Ringen nach Halt in der Luft. Grandiose Skyline. Inmitten der Turm, der Skytree. Für Rundfunk und Fernsehen, für Klasse und Masse. Ein maßloses Netzwerk zur Spitze. Hoch. Tief unter dem Burj Khalifa. Ein Amphitheater die Stadt. Mensch gegen Mensch. Gladiatoren der Kernkraft. Noch ist heller Tag. Und die ersten Schatten des Mondes. Sein Blick gilt dem Monster Fuji. Alles strahlende Ruhe. Noch. (Dine Petrik, Album, 8.8.2015)