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Anna Baar, Leidenschaft, Liebe, Ernst und heiterer Zorn: Die 1973 in Zagreb geborene Anna Baar lebt heute in Klagenfurt.


FOTO: APA/GERT EGGENBERGER

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Anna Baar, "Die Farbe des Granatapfels". EURO 20,50 / 320 Seiten. Wallstein, Göttingen 2015"

Cover: Wallstein

Lieber würde ich die Maultrommel schlagen oder die Mundharmonika blasen als über Literatur reden. Und lieber würde ich über Literatur reden als das gegenwärtige Geschäft, den gegenwärtigen Umgang, den gegenwärtigen Handel mit Literatur. (...) Ich sehe dort, wo einmal vielleicht Leidenschaft, Liebe, Erschütterung, Ernst, Zorn und heiterer, genauer Streit spielten, ein finsteres, jämmerliches, schamloses, beschämendes Geschiebe, Gedränge und Gerempel von Machthaberei, Schlagworten in jedem Sinn, Begrifferücken, Spiegelfechterei, Spitzfindelei – mit einem Wort: den totalen wie totalitären Vordergrund, welcher nicht einmal beklagenswert ist, bloß zu verachten", zürnte Peter Handke dereinst in seiner Rede zur Verleihung des Petrarca-Preises.

Diese bitteren Sätze über die deutsche Gegenwartsliteratur mögen für viele Neuerscheinungen und noch mehr für die meisten der zahlreichen Debütromane ihre Gültigkeit haben, nicht aber für das Romandebüt von Anna Baar. Die Jungautorin erzählt in ihrem Erstling die stark autobiografische Züge tragende Geschichte eines heranwachsenden Kindes zwischen zwei einander verständnislos gegenüberstehenden Kulturen, der österreichischen und der des ehemaligen Jugoslawien.

Kindheitsgeschichten, besonders jene von Autoren mit migrantischem Hintergrund sind am Buchmarkt in den letzten Jahren keine Seltenheit, aber Die Farbe des Granatapfels der 1973 in Zagreb geborenen und in Klagenfurt lebenden Anna Baar ragt aus der Masse des Neugedruckten heraus und erinnert ob ihrer präzisen Beschreibungen und ob der durch den gesamten Text gehenden poetischen Dichte ihrer Sprachbilder entfernt an Maja Haderlaps Engel des Vergessens.

"Das Geschriebene schien wahrer als das bloß Dahingesagte, das sich, einmal ausgesprochen, im Nu verflüchtigte, wie Nadas vollmundige Versprechen – und lag nicht schon im Wort Versprechen ein Hinterhalt, der Hinweis auf ein Versehen? Im Schreiben konnte man die Vatersprache gebrauchen, die leibliche Sprache, in der man für Wochen schwieg und doch fortwährend dachte, träumte und empfand. Und zweifellos war es klüger, das Hingeschriebene vor Nada geheim zu halten, sonst wieder ihre hochgezogene Braue, ihr schräger Blick: Mörderzunge!"

Anna Baar erzählt mit Leidenschaft, Liebe, Erschütterung, Ernst und heiterem Zorn, frei von Schlagworten in jedem Sinn, frei von Begrifferücken, Spiegelfechtereien und Satzfindeleien und nie vordergründig, die Geschichte eines im doppelten Sinn heimatlosen, zerrissenen und doch sorgsam behüteten Kindes.

Sommers ist die Erzählfigur auf einer dalmatinischen Insel in den fürsorglichen Klauen ihrer nur Kroatisch sprechenden Großmutter, einer kettenrauchenden, kleinbürgerlich-selbstherrlichen alten Tito-Partisanin, in deren abgöttisch-egoistischer Liebesumklammerung das Kind um Luft ringt und sich nach der Mutter im Vatersprachenland sehnt.

Den Großteil der Jahre, ein fragmentarisch bleibender Kleinteil im Roman, verlebt das Kind, häufig übersiedelnd und mit wechselnden Kindermädchen, in Österreich, der Heimat ihres klavierspielenden Vaters. Vor die vier Romankapitel "Die Zunge des Basilisken", "Das Lieben der anderen", "Minderjahre" und "Atemlauern" stellt die Autorin prologähnlich den Bahngleisemutprobetod eines bewunderten Spielkameraden im Vatersprachenland – "Und irgendwann, ich schwor es Ela hoch und heilig, würde ich es sein, die es am längsten auf den Gleisen hielte. Vielleicht an jenem Tag im September, an dem wir uns erinnern, wie sich Hanin seiner Flügel entsann und durchbrannte – ohne Lebewohl, wie es seine Art war" -, mit dem sie den Roman im Hafen von Split auch ausklingen lässt.

Dazwischen verweben sich über 300 Seiten kelimgleich ihre Sprachbilder: auf der Vorderseite die der erwachsenen Ich-Erzählerin und auf der Rückseite jene des in der dritten Person erzählten Kindes. Ein klarer poetischer Sprachrausch im Wechselton: "Sie waren sich gut, Nada und das Kind, in den Stegreifmärchen und Mätzchen, auf allen vieren auf dem Fransenkelim Maulesel nachahmend, außer sich, albern und allen Ernstes – und auf die immer seltenere Erkundigung, die ihren Zweibund gefährden mochte, stand die Antwort längst fest: Bald kommt die Mutter. Bald!"

Das Sehnen nach der Mutter wechselt ins kindliche Empfinden für den Vater und das Ungewisse. "Wenn der Vater spielte, wusste man nie, ob er für sich spielte oder für das Kind oder für jemanden, der unsichtbar unter ihnen weilte, denn sein Spiel war von solcher Hingabe, dass es unmöglich nur ihnen beiden gelten konnte. Da war kein Anfang, war kein Ende, nur eine Selbstverschwendung, an der man gewiss sterben konnte (...)."

Anna Baar erzählt von Veränderung, "über den Sommer ist das Kind gewachsen. Immer wächst es über den Sommer. Es kann jetzt über den Flügelrand blicken, schaut durch den Deckelspalt in den Bauch des Instruments, ins Schädeldach des Klaviers, dessen Nervenstränge beim Anschlag der Filzhebel beben", und von Gleichbleibendem: "Das Fremdsein blieb unvermeidlich, hier wie dort – unter jenen, die mir das Vaterland absprachen (...), wie jenen, die mir die Muttersprache verübelten, die Banditensprache (...)."

Am Ende steht die Emanzipation des Kindes zur jungen Frau: "Die Dunkelheit tut einem nichts, Nada. Du aber leuchtest alles aus, stellst die Fragen wie Fallen, ahnungslos, dass du die Wahrheit nicht ertragen würdest, weil du immer noch darauf vertraust, dass ich dir nichts zuleide tu, nicht einmal durch eine Aufrichtigkeit etwas zuleide täte, die du mir übler nähmst als alle Lügen ..."

"Und nun bin ich zurück bei den Gedichten, der Maultrommel, der Mundharmonika", lautet Handkes Schlusssatz in der eingangs zitierten Rede. Anna Baars letzter Satz ist der Endvers im Roman, das Ausklingen der Maultrommel und das Verstummen der Mundharmonika: "Wie waren die Sinne leicht, bevor sie schwanden! Dreimal, viermal, fünfmal pfiff das Ungeheuer. Für einen Augenblick von Ewigkeit hielten wir den Atem an." (Wilhelm Huber, Album, 29.8.2015)