Die Ende 2014 eröffnete Galerie Oode an der Singelgracht in Amsterdam – der Name stammt aus dem Altniederländischen und heißt so viel wie Hingabe – ist kein üblicher Kunstsalon wie viele andere an den Grachten, sondern eine Art Waisenhaus für verstoßene Kunstwerke.

Foto: Wojciech Czaja

200 Euro für ein Ölgemälde von Jeanne de Kruif. "Verloren Terrain", das verlorene Land, Öl auf Leinen, 50 mal 60 Zentimeter, alte Inventarnummer 968-004, neue Inventarnummer 311-840. Die früher Eigentümerin verrät der bürokratisch applizierte Aufkleber auf der Rückseite – weil alles seine Ordnung braucht: Zentrum für Bildende Kunst Utrecht. Der Originalpreis von anno dazumal, mit Schreibmaschine ins vergilbte Papier getippt: 1.250 Gulden – also rund 570 Euro.

"Nein, das ist kein Tippfehler, das Bild kostet jetzt wirklich nur 200 Euro", sagt Marleen Kurvers, ausgebildete Glaskünstlerin und Kuratorin. "Sie sind nicht der erste, der erstaunt ist über unsere Preise. Aber so können wir sicherstellen, dass die alten Kunstwerke auch wirklich gekauft werden, anstatt in einem der Stadtarchive zu vergammeln, irgendwo in einem feuchten Keller unter einigen Tausend anderen Werken von damals." Ihre Augenbrauen wandern rauf, der Kopf leicht zur Seite, ein kesses Grinsen: "Ich nehme an, Sie entscheiden sich dafür, das Bild zu adoptieren? Herzliche Gratulation zur Elternschaft! Ich packe es schon einmal für Sie ein."

Die Ende 2014 eröffnete Galerie Oode an der Singelgracht in Amsterdam – der Name stammt aus dem Altniederländischen und heißt so viel wie Hingabe – ist kein üblicher Kunstsalon wie viele andere an den Grachten, sondern eine Art Waisenhaus für verstoßene Kunstwerke. Rund 400 lehnen hier an der Wand, stehen auf Kommoden, baumeln von der Decke oder sind einfach nur irgendwo zu einem großen Stapel geschlichtet. So wie Verloren Terrain.

Deal mit den Staatskünstlern

Die Gemeinsamkeit aller hier ausgestellten Bilder, Skulpturen, Tische, Stühle, Vasen und Installationen: Sie stammen von niederländischen Künstlern, die vom Staat zwischen 1956 und 1987 gefördert wurden. Die öffentlichen Mittel waren für jene Kunstschaffenden gedacht, die nach dem Krieg nicht in der Lage waren, ihrem Beruf nachzugehen. Der Deal: Zum Ausgleich mussten die diese dem Staat pro Jahr ein Kunstwerk vermachen. Beeldende Kunstenaars Regeling (BKR), Regelung für bildende Künstler, nennt sich dieses europaweit einzigartige Programm.

"Das Programm ist großartig und hat einige berühmte Maler hervorgebracht, die sonst wahrscheinlich nicht überlebt hätten", sagt die 34-jährige Galeristin. Darunter etwa Karel Appel, Eugène Brands oder Robbie Cornelissen. "Allerdings musste das Programm beendet werden, weil man irgendwann festgestellt hat, dass man bereits mehr als 300.000 Kunstwerke besitzt und sich die Ausstellungs- und Lagerflächen dafür nicht mehr leisten kann."

Kunstwerke als Waisenkinder

1987 ging BKR zu Ende. Seit damals werden die Gemälde, Zeichnungen und Plastiken dieser Ära verscherbelt, meist in Auktionen, über Ebay oder die in ’s-Hertogenbosch beheimatete Stichting Onterfd Goed (SOG), die Stiftung der enterbten Güter. Einige werden an Museen und Ausstellungshäuser verschenkt und landen am Ende erst recht wieder im Keller. 42.000 Kunstwerke, schätzt man, sind in den Archiven der Staats- und Gemeindemuseen eingemottet.

"Das sind Waisenkinder, wenn Sie so wollen", sagt Kurvers. "Genau dieser Fälle nehme ich mich an. Und nein, um ehrlich zu sein, es ist nicht alles Top-Kunst, was hier zu sehen ist, das Meiste ist unauffälliges Mittelmaß. Dennoch sind es Originale. Ich würde mir wünschen, dass in den holländischen Wohnzimmern über der Couch solche Arbeiten hängen – und nicht der tausendste Blumenkitschkunstdruck von Ikea."

Manche Werke werden für weniger als 100 Euro verkauft, wandgroße Riesenschinken in Öl um vielleicht 500, 600 Euro, aber das sind Ausnahmen. Oft picken Hände und Gesichter an der Auslage, viele deuten mit einem Ausdruck der Verständnislosigkeit auf die Preisschilder.

Zur Adoption freigegeben

Das Wichtigste, meint Jolande Otten, Leiterin der SOG-Stiftung, die öffentliche Archive durchforstet und verwaltet, sei es, den Leuten die Geschichte und somit den Wert dieser Kunststücke zu vermitteln. "Daher hatte ich die Idee, dass wir ,Hollands Waisenkinder‘ nicht zum Verkauf anbieten, sondern zur Adoption freigeben. Die Menschen lieben diese Idee! Wir auch, weil wir auf diese Weise einem kulturellen Bildungsauftrag nachkommen können."

Die Übernahme des Adoptionszertifikats ist allerdings mit gewisse Auflagen verbunden. Als Adoptivelternteil verpflichtet man sich dazu, Sorge für das Kunstwerk zu tragen und es an einem öffentlichen oder privaten Ort gut sichtbar auszustellen. Das wird sogar per Unterschrift verbrieft, den Durchschlag behält die Galerie.

"So viele Babys – von manchen trennt man sich schwer", seufzt "Pflegemutter" Marleen Kurvers. "Aber das passt schon. Ich fühle mich hier wie im Schlaraffenland, wo ich längst vergessene Kunstwerke wieder wachküssen und im Wert aufpäppeln darf." "Verloren Terrain" ist jetzt fertig eingepackt zum Minehmen. "Bitteschön! Und passen Sie gut darauf auf!" (Wojciech Czaja, 16.9.2015)