Verstört und deprimiert sind die Türken in diesen Tagen. Mit wem man auch spricht, mit frommen Konservativen oder linken Liberalen, die selbstquälende Frage ist oft dieselbe: Wie konnten wir in nur so kurzer Zeit alles verspielen? Drei Monate nach den Parlamentswahlen, deren Ausgang von vielen als Chance, von anderen als Weckruf verstanden wurde, steht die Türkei wieder im Krieg gegen sich selbst. Ganz so wie in den 1990er-Jahren, mit militärischen Sperrgebieten und mit ausländischen Journalisten, die ausgewiesen werden. Fast jeden Tag gibt es nun Anschläge und Tote, Euro und Dollar haben schwindelerregende Höhen erreicht, die Touristen beginnen, das Land zu meiden. Die Erfolgsstory Türkei ist tot.

Acht Tage Ausnahmezustand in der kurdischen Stadt Cizre, offiziell umschrieben als Ausgangssperre zum Schutz der Bevölkerung und des öffentlichen und privaten Eigentums, waren nur ein weiterer Schritt auf dem Weg ins Verderben, den die Türkei nun hinunterschlittert. Militäroperationen in einem Stadtgebiet, ohne Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und ohne ärztliche Hilfe, sind selbstverständlich ein menschenrechtliches Problem. Die EU und der Europarat haben darauf hingewiesen.

Doch auch die pogromähnlichen landesweiten Angriffe auf Parteigebäude der HDP, der kurdisch dominierten, linksliberalen Minderheitenpartei, und auf das Verlagsgebäude des Massenblatts Hürriyet – Letztere angeführt von einem Politiker der Regierungspartei AKP – zeigen, welches Ausmaß der politische Bürgerkrieg in der Türkei nun erreicht hat.

Die Verantwortung für dieses Desaster wird Staatspräsident Tayyip Erdogan ebenso wie der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Untergrundarmee PKK zugewiesen. Beiden geht es am Ende nur um den Erhalt ihrer Macht. Die PKK hat in dem 2010 zunächst geheim eingeleiteten Verhandlungsprozess nie die Garantien vom türkischen Staat erhalten, die sie für die Einstellung des bewaffneten Kampfs wollte. Den Erfolg der HDP bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen hat sie mit Misstrauen verfolgt: Die HDP ist ein Novum für die Türkei, ein politisches Projekt, das über die kurdische Wählerschaft hinausreicht. Das beunruhigt die PKK-Führer; sie fürchten, ihren Rückhalt und Einfluss in der kurdischen Bevölkerung zu verlieren.

Auch Erdogan sieht die HDP als Gegner. Sie hat ihn um die Alleinregierung im Parlament und um die Verfassung für den Ein-Mann-Staat gebracht. Den Aufstieg der Partei hat er nicht erwartet. Sobald Erdogan begriff, dass der Friedensprozess Stimmen für die HDP, aber nicht mehr für seine konservativ-islamische AKP bringt, brach er ihn ab.

Doch Erdogan ist nicht mehr unangefochten in seinem Lager. Die AKP ist politisch leer, von einer "Wir-Partei" zu einer "Ich-Partei" geworden, wie Erdogans Weggefährte Bülent Arinç nun kritisierte. Auf den rational denkenden Teil der AKP richten sich nun die Hoffnungen der Türken. (Markus Bernath, 14.9.2015)