Langsame Entfremdung: Charlotte Rampling und Tom Courtenay spielen in Andrew Haighs "45 Years" ein Paar, in dessen Miteinander sich laufend mehr falsche Töne mischen.

Foto: filmladen

Englischsprachiger Trailer.

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Wien/London – Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay) sind ein Ehepaar, das kurz vor seinem 45-Jahr-Jubiläum steht. Da bringt ein Brief Unruhe ins harmonische Zusammenleben. Die in den 1960er-Jahren verunglückte Jugendliebe Geoffs wurde in einem Gletscher gefunden. Die Nachricht erzeugt, zuerst noch unmerklich, Irritationen, die Gewissheiten geteilten Glücks erscheinen plötzlich in anderem Licht. Der Brite Andrew Haigh hat mit 45 Years einen stillen, schmerzhaften, äußerst genauen Film über zwischenmenschliche Gräben gedreht. Tom Courtenay und Charlotte Rampling wurden auf der Berlinale mit Schauspielpreisen gewürdigt.

STANDARD: Stimmt es, dass Sie das Drehbuch in einem Zug auf Ihrem iPhone gelesen haben und sofort wussten, dass das eine großartige Rolle ist?

Courtenay: Oh Gott, ja. Diese Idee einer Jugendliebe, die einen einholt, war außergewöhnlich. Was für ein Bild! Ich sagte bloß "Fuck me!" und dachte, dass ich das beim Dreh auch sagen würde. Dann war mir aber klar, dass dafür keine Notwendigkeit besteht.

STANDARD: Die Geschichte erinnert entfernt an ein Märchen, das aber sehr realistische Auswirkungen hat. Vieles findet im Kopf statt.

Courtenay: Andrew Haighs räumliche Vorstellungen waren insgesamt stark. Die Berge, der Schnee – die man nie sieht, außer auf Fotos – und dann diese flache Landschaft von Norfolk, in der der Film spielt. Ich dachte: Wow, der Mann hat eine Erfindungskraft.

STANDARD: Der Film spielt fast nur in der Welt des Paares. Man wird in die häusliche Intimität eingebunden. Haben die Szenen mit Charlotte gleich funktioniert?

Courtenay: Was alle überrascht, ist, dass wir uns davor nicht kannten. Wir haben auch nicht wochenlang geprobt. Jemand erzählte, es hätte diese US-Schauspieler gegeben, die ein Paar spielen mussten und dafür sechs Wochen miteinander gelebt hätten: Jesus! Wir haben uns getroffen, unsere Szenen gelesen, darüber geredet. Dann ging ich mit Charlotte auf ein Glas Wein. Ich mochte meine Reden, von denen es ein paar im Film gibt.

STANDARD: Da haben Sie auch ein wenig improvisiert, nicht wahr?

Courtenay: Eigentlich nur in der Szene bei der Hochzeitsfeier. Die Monologe über die Vergangenheit stehen alle im Drehbuch – ich hab an der Intonation gefeilt, Witze eingestreut. "Haben wir noch Eier übrig?" – diese Szene, in der wir Frühstück zubereiten. Kleinigkeiten. Ich liebe solche Sachen.

STANDARD: Geoff beginnt sich zu verändern. Er raucht wieder, ist öfters wütend. Entdeckt er den Abstand zu seinem alten Ich?

Courtenay: Er gewinnt sicherlich an Kraft durch diesen Fund. Und er ist verärgert über seine Freunde. Ich bin nicht so links wie er, aber das gefiel mir an ihm sehr – dass er diese Wut über die Saturiertheit seines Umfelds verspürt. Und dann fragt ihn Kate nebenbei, ob alles in Ordnung sei – das ist so simpel und doch so wirkungsvoll. Diese schreckliche Frau. Natürlich ist nichts in Ordnung.

STANDARD: In den letzten Jahren hat sich das Best-Agers-Genre etabliert – Filme für eine ältere Generation, die ihr Publikum meist unterfordern. Warum sind ernsthafte Filme wie "45 Years" so selten?

Courtenay: Das ist wohl ein Problem der Perspektive. Meine Rolle ist eine romantische Hauptrolle. Geoff steckt zwischen zwei Frauen fest. Er ist in seinen 70ern – eine solche tragende Rolle für dieses Alter sieht niemand mehr vor!

STANDARD: Sie haben in den 1960er-Jahren mit Filmen wie "Die Einsamkeit des Langstreckenläufers" oder "Billy Liar" einen steilen Start im Kino vorgelegt ...

Courtenay: Stellen Sie sich vor, zwischen dem Preis, den ich in Venedig für King & Country bekam und der Auszeichnung in Berlin liegen tatsächlich 50 Jahre! Unglaublich – was habe ich in der ganzen Zeit eigentlich gemacht?

STANDARD: Zum Beispiel Dr. Schiwago – nicht ihr liebster Dreh!

Courtenay: Oh, all die Warterei am Set von David Lean! Er wartete immer auf das perfekte Wetter. Ich dachte, ich vergeude nur meine Zeit, ich sollte erst mal das Schauspielen lernen. Ich hatte diese obsessive Idee, dass ich mehr davon profitieren würde, wenn ich vor Publikum spielen würde. Meine Stimme würde sich entwickeln, ich könnte meine Nerven besser kontrollieren – das gelingt mir erst seit kurzem, und auch nur wenn ich einen guten Tag habe!

STANDARD: Warum wollten Sie nicht nach Hollywood wie ihr Weggefährte Albert Finney?

Courtenay: Ich habe dort einen Kriegsfilm namens King Rat gedreht und hatte zwei Geldjobs. Happy New Year mit Peter Falk, die reinste Folter! Er ist schon tot, ich darf das sagen. Der andere war mit Bill Cosby, der gerade ziemlich tief in Problemen steckt. Damals war er charmant. Ich habe mir danach zumindest ein Cottage im Lake District leisten können.

STANDARD: Ihre letzte Theaterarbeit galt dem Dichter Philip Larkin, der wie Sie aus Hull stammt – ein Liebhaberprojekt?

Courtenay: "They fuck you up, your mum and dad" – das sind seine berühmtesten Verse. Er war ein wunderbarer Lyriker. Ich habe Gedichte mit autobiografischen Texten kombiniert. Der Abend war sehr erfolgreich. Wir sind damit sogar nach Irland gegangen.

STANDARD: David Foster Wallace hat ihn auch sehr verehrt.

Courtenay: Oh ja. Er liebte es ja auch, mit der Sprache seine Scherze zu treiben. Es gibt wunderbare Flüche in Unendlicher Spaß: "Fuck me skating!" Aber man braucht ein Wörterbuch. Priapeisch! Das heißt phallisch. Oder ephebisch – kommt aus dem Griechischen: jugendlicher Mann. Hätten Sie das gewusst?

STANDARD: Ehrlich gesagt, nein.

STANDARD: Das hätte mich jetzt auch wirklich überrascht! (Dominik Kamalzadeh, 16.9.2015)