Während die Revolution ideologisch ausdünnt, zeigt Kubas katholische Kirche kräftig Profil.

Wie alle sozialrevolutionären Bewegungen Lateinamerikas standen auch Kubas "Barbudos" im agnostischen Lager. Religion als Aberglaube, so die Annahme, würde bei fortschreitendem Sozialismus von selbst verschwinden. Allerdings hatte der Fidelismo das Bedürfnis der Bevölkerung nach Transzendenz krass unterschätzt, auch wenn diese am vitalsten im afro-kubanischen Synkretismus lebte und lebt.

Kubas konstitutionelle Eigendefinition als "atheistischer Staat" sollte keinen Bestand haben. Daher 1992 Korrektur auf "laizistischen Staat", der allen Kulten Toleranz einräumt; auch der katholischen Kirche, obschon diese vor der Revolution mit Franco-freundlichen Priestern hauptsächlich die pastorallahme Bourgeoisie von Havanna betreut hatte. Nachdem deren Angehörige bis 1965 fast vollständig nach Miami geflüchtet waren, blieb eine Kerngruppe übrig, die sich theologisch läuterte und eine Koexistenz mit der Revolution einging. Dass nicht alle Christen Reaktionäre sein mussten, begriff Fidel Castro außerdem am Beispiel der sandinistischen Guerilleros, die lässig mit der Kalaschnikow in der Hand auch fromm beteten.

Zum Durchbruch kam es 1975, als in Havannas Staatsverlag das Buch Fidel y la religión (deutsch "Nachtgespräche mit Fidel"), ein ellenlanges Interview des brasilianischen Dominikanermönchs Frei Betto mit Fidel, herauskam. Ohne jede Verlagswerbung war der Band innert Stunden vergriffen. (Und Frei Betto sollte später den Kreisky-Menschenrechtspreis erhalten.)

Keine Dissidentenklammer

Also lag man mit der These von der Religion als Opium des Volkes falsch. Fühler wurden ausgestreckt. Kubas katholische Kirche verzichtete auf eine scharf oppositionelle Rolle und richtete sich auf Kohabitation ein. Mit Erfolg. Zwei Papst-Besuche, 1989 und 2012, verstärkten diese Position. Kubas Revolution rechnet es der Kirche hoch an, dass keine Klammer mit den politischen Dissidenten (auf Kuba als Konterrevolutionäre eingestuft) entstand. Zwar setzt sich Kubas katholische Kirche, heute geleitet von Kardinal Jaime Ortega, diskret für die Freilassung von Gefangenen ein und pocht sanft auf Meinungsfreiheit, steht jedoch ansonsten in einer harmonisierenden Beziehung zur Revolution. Im Gegenzug gibt es Baumaterial für die Renovierung von Kirchen, darf wieder ein Priesterseminar geführt werden und können diözesane Kirchenblätter gedruckt werden. Jüngst gab die Revolution zum Karfreitag arbeitsfrei.

Besondere Wichtigkeit kommt der katholischen Zeitschrift Espacio Laical zu, bis zum heurigen Jahr die einzige freie Publikation auf Kuba. Omar Everleny Pérez, ein regimetreuer Wirtschaftsprofessor von der Universidad La Habana, nützte zum Beispiel diese Publikation für die Dokumentation der – offiziell nicht existierenden – "neuen Armut" auf Kuba.

Auch kommt es Raúl Castro und seiner innerparteilichen Gerontokratie zupass, dass die Kirche nicht nur Seelsorge, sondern auch Leibsorge betreibt. Kubas katholische Caritas betreut Alte, betreibt einige Suppenküchen und wagt sich sogar in den Bereich eigener Mikro-kredite für Kleinbauern.

Also Ecclesia triumphalis? Vielleicht doch nicht. Denn obschon theologisch gegen das Arrangement der Kirche mit der Revolution nichts einzuwenden ist, argwöhnen katholische Dissidenten den Verlust an prinzipieller Regimekritik. Diese liegt heute außerhalb der Kirche und pulsiert bei einigen hundert Bloggern oder Künstlern, darunter führend junge Frauen, deren – scheinbar unpolitische – Inszenierungen Raúl Castro den Schlaf rauben. In einsamer Avantgarde steht Tania Bruguera, der immer wieder der Pass abgenommen wird oder der bürokratische Quälereien drohen. Vor Jahren zeigte Frau Bruguera in Wien ihre frühe Kunstperformanz, schmerzhaft für uns Zuschauer, weil sie sich, als integraler Teil ihrer Aktion, mit einem Messer tief ins eigene Fleisch schnitt und ihr Blut fließen ließ.

Null Toleranz

Heute wird nichts mehr toleriert. Als Tania im Frühjahr, im Rahmen der heurigen Kunst-Biennale, im Patio ihres Havanna-Hauses aus Hannah Arendts Klassiker Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft vorzulesen begann, tauchte prompt ein Arbeitstrupp auf, der den Gehsteig mit Presslufthämmern aufzureißen begann und damit ihre Stimme überdröhnte.

Nicht vor der pragmatischen katholischen Kirche, sondern vor ein paar Frauen und Männern mit ihren unorthodoxen Kunstinszenierungen hat heute die kubanische Gerontokratie Angst. (Gerhard Drekonja-Kornat, 17.9.2015)