Foto: Kremayr und Scheriau

Karim El-Gawhary hat sich unter den Journalisten, die österreichische Medien bedienen, eine besondere Position erarbeitet. Der Nahostkorrespondent mit Wurzeln in Ägypten und Deutschland ist mehr als ein Beobachter. In seiner Identität liegt bereits jene Brückenfunktion, die ihn in den engagierten, manchmal auch emotionalen Berichten über sein Herkunftsland Ägypten zu einem der Lieblingsreporter der ORF-Seher macht.

Ausgestattet mit dieser Autorität eines leidenschaftlichen und glaubhaften Vermittlers, mag die Aufklärungsarbeit, die er mit seiner ORF-Kollegin, der Rom-Korrespondentin Mathilde Schwabeneder, im soeben erschienenen Reportageband Auf der Flucht betreibt, fruchtbaren Boden finden; fruchtbaren Boden bei jenen, die sich nach Aufklärung sehnen über die Gründe und Mechanismen, welche die Menschen in Massen an Bahnhöfen in Österreich und Deutschland stranden lassen.

Reportageband

Ansätze dieser Aufklärung leistet der Band tatsächlich. Die "Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers", die der Untertitel verspricht, beschränken sich nicht auf die Leidensporträts Geflüchteter. Sie geben gleichzeitig Einblick in die Funktionsweise des großangelegten Schlepper- und Menschenhandelsbusiness und in die Systeme des politischen Versagens dies- und jenseits des Mittelmeers. Die knapp 200 Seiten lassen sich als anschaulicher Überblick der Krise lesen, die sich in den letzten Jahren an den Grenzen Europas angebahnt hat.

Die größte Leistung des Buches ist aber, dass es Lesern ihre Fantasie zurückgibt. Die Fantasie, die Schmerzen zumindest zu erahnen, die diese Menschen auf ihrer Flucht begleiten. Die Fantasie, die angesichts der immer neuen Zahlen von Ankömmlingen, Internierten oder Ertrunkenen verloren gegangen ist.

Leid und Integration

Mit der Drastik, die die Einzelschicksale vor Augen führen, muss man allerdings zurechtkommen. Da sind Kinder und Mütter, die in Lagern an Kälte oder Mangel an Hygiene sterben, oder gebrochene Menschen, die angesichts des Erlebten erstarren und sich in ihr Inneres zurückziehen; die versklavte, stetig misshandelte Frau, die als Prostituierte nach Österreich verkauft werden sollte; der Säugling, dessen Schädel von einer Kugel zerfetzt wird. Wenig rührt so sehr wie das erbitterte Aufrechterhalten letzter Hoffnungen, bevor auch diese sterben.

Die Autoren versuchen im Verlauf des Buches mehr positive Elemente zu verweben: ein Vater, der seine Familie zurückkaufen konnte, geglücktes Unterkommen in Betreuungsstätten, die Arbeit engagierter Helfer. Das Integrationsthema wird am Beispiel des Ortes Großraming im Ennstal verhandelt, wo eine Konvertierung von ängstlicher Ablehnung zu gemeinsamem Anpacken möglich erscheint. Als Lohn für die Konfrontation mit all den schweren Schicksalen winkt, dass man sich wieder etwas mehr verbunden fühlt mit der Welt und nicht mehr am Horizont der Staatsgrenze zu scheitern droht. (Alois Pumhösel, 19.9.2015)