Kann Low-Budget-Bauen auf die Schnelle auch würdig sein? In der roten Containersiedlung in Bremen-Walle haben die Architekten Feldschnieders+Kister auf die Wünsche, Anforderungen und alltäglichen Abläufe der Flüchtlinge reagiert. 180 Menschen finden hier, gruppiert um eine Art Dorfplatz, ein temporäres Zuhause.

Foto: Architekten

Yana Milev: "Alltagskultur ist extrem wichtig."

Foto: Privat

STANDARD: Sie haben bulgarische Wurzeln und sind in der DDR aufgewachsen. Wie haben Sie die Flüchtlingsdebatte und die damit verbundene Asylquartierkrise der letzten Wochen miterlebt?

Milev: Es hat mich emotional sehr mitgenommen. Wenn auch aus ambivalenten Gründen. Einerseits hat es mich berührt zu sehen, welche Zivilcourage die Österreicher und Deutschen entwickelt haben, um sich für die Flüchtlinge aus Syrien zu engagieren. Andererseits habe ich beobachtet, welchen Nationalismus und welche Härte die Länder in so einer Notsituation an den Tag legen. Ich habe die Souveränität des Wohlfahrtsstaates vermisst. Hier ist das Modell scheinbar an seine Grenzen gestoßen.

STANDARD: In Österreich werden die Flüchtlinge in Zelte und Container gesteckt.

Milev: Sofern ein Land nicht über perfekt aufbereitete Lager samt der nötigen Infrastruktur verfügt, kann ich nur sagen: Zeltstädte und improvisierte Containersiedlungen sind prinzipiell eine sehr gute und effiziente Methode, um rasch auf Not zu reagieren und in kürzester Zeit zehntausende Menschen aufzunehmen – sofern gewisse Spielregeln beachtet werden. Das zeigen die UN-Flüchtlingslager in Jordanien, aber auch Japans prompt organisierte Notunterkünfte nach Fukushima.

STANDARD: Wie lauten denn diese Spielregeln?

Milev: Obdach, Infrastruktur wie etwa Duschen und WC sowie Versorgungsmöglichkeiten von außen mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten. Das ist einmal die Hardware. Die Software allerdings ist mindestens genauso wichtig. Und damit meine ich einerseits Bewegungsspielräume wie etwa ein Teppich, ein Blumenbeet vor dem Zelt, ausreichend Platz zum Kochen, Essen, Schlafen sowie Sportflächen. Andererseits Handlungsspielräume für kulturelle Codes, etwa für kollektive Rituale, für Religion, für Musik, für einfache Tauschgeschäfte, für Dienstleistungen im temporären Alltag – und sei es nur ein Friseur, der einem nach ein paar Wochen die Haare schneidet.

STANDARD: Ganz alltägliche Dinge also ...

Milev: Im Grunde genommen muss ein Auffanglager für Flüchtlinge all jene Möglichkeiten bieten, die sich in informellen Siedlungen aller Art – so wie etwa in Slums – ganz von allein entwickeln, wenn man sie nur lässt. Die Erfahrung zeigt, dass diese Spielräume extrem wichtig sind.

STANDARD: Weil?

Milev: Weil die Menschen ihre eigene Kreativität ausleben können müssen, damit sie sich, wenn sie schon kein monetäres Kapital haben, zumindest auf ihr soziales und kulturelles Kapital stützen können, damit sie nach ein paar Wochen nicht durchdrehen und sich nicht gegenseitig umbringen. Die Pflege der Kultur, die Aufrechterhaltung eines gewissen Alltags machen die Menschen psychisch immun.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass diese Mindeststandards in den Erstaufnahmezentren und Asylquartieren eingehalten werden?

Milev: Da traue ich mir kein Urteil zu. In den Medien hat man diesen Eindruck jedenfalls nicht vermittelt bekommen.

STANDARD: In Ihrem Buch "Emergency Design" schreiben Sie, dass gesicherte innere Wohnraumverhältnisse am Anfang aller Architektur- und Design- strategien stünden. Ab wann kann man von einem solchen gesicherten inneren Wohnraum sprechen?

Milev: Sobald die Menschen einen Hauch von Hoffnung und Sicherheit spüren und anfangen, sich wohlzufühlen. Dazu braucht es eigentlich gar nicht viel. Haben Ungarn, Österreich und Deutschland das bieten können? Da bin ich mir nicht sicher ...

STANDARD: Sind Ihnen positive Beispiele für Notunterkünfte bekannt, wo es gelungen ist, rasch, billig, effizient und dennoch hochwertig zu handeln?

Milev: Da gibt es viele gute Beispiele. Ich denke etwa an den Wiederraufbau von New Orleans nach dem Hurrikan Katrina, an die Flüchtlingslager der UN, an ein Kunstprojekt von Daniel Kerber in Saatari, das größte Flüchtlingscamp der Welt, oder etwa an den Flat Pack Shelter, den Ikea für die UNHCR entwickelt hat. Die Erfahrung ist da, das Know-how ist da, man soll die Menschen nicht unterschätzen.

STANDARD: Es gibt einige Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, schnellen, kostengünstigen, modular aufgebauten Wohnraum zu schaffen, der sich später sehr leicht für andere Nutzungen adaptieren lässt. Wäre das nicht nachhaltiger?

Milev: Ich finde es beeindruckend, wie sich hier im Laufe der Zeit ein eigener Marktzweig entwickelt hat. Nur allzu verständlich! Die Anmietung von Containern ist ja auf Dauer auch nicht gerade billig. Und ich denke, dass sich hier in den kommenden Jahren eine eigene neue Industrie mit Mehrweghäusern und recycelbaren Einwegunterkünften etablieren wird.

STANDARD: Noch mehr, als das heute schon der Fall ist?

Milev: Ja. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund – weil der Notfall keine einmalige Sache mehr ist. Seit den Neunzigerjahren sind wir mit Naturkatastrophen und politischen und wirtschaftlichen Desastern in einer wahrnehmbar erhöhten Frequenz konfrontiert. Notfälle und Emergencies stehen mittlerweile auf der Tagesordnung. Wir bräuchten längst schon eine Industrie, die sich auf Container- und Zeltsiedlungen spezialisiert, die auf Knopfdruck aufgebaut und aktiviert werden können.

STANDARD: Was ist mit Immobilienleerstand? Laut einer Untersuchung der britischen Tageszeitung "The Guardian" stehen in der EU mehr als elf Millionen Häuser und Wohnungen leer. Allein in Deutschland sind es über 1,8 Millionen ungenutzte Objekte.

Milev: Das ist mehr, als ich zu glauben gewagt hätte. Schwierig! Die Zurückhaltung von leerstehenden Immobilien ist ein enormes Problem der Kapitalgesellschaft. Leider wird das Zurückhalten der privaten Ressourcen umso stärker, je prekärer die Situation, je größer die Krise ist. Bei den Privaten sehe ich also schwarz.

STANDARD: Und was ist mit der öffentlichen Hand? Wäre es nicht volkswirtschaftlich sinnvoller, sich kurzfristig in diesen Leerstand einzumieten, anstatt das Geld für Zelte und Container auszugeben? Lässt sich so ein System nicht entwickeln?

Milev: Theoretisch ist das möglich. Hier muss man an die politische Ebene sowie an die NGOs appellieren. Doch praktisch halte ich die Aktivierung von Immobilienleestand für einen sehr langen, steinigen Weg. Leider. Der beste Ansatz wäre hier noch die Nutzung leerstehender Kasernen. Davon gibt es in Österreich und Deutschland ja eine Menge.

STANDARD: Abschlussfrage: Was ist Ihr Wunsch für hier und jetzt?

Milev: Danke für diese Frage! Ich wünsche mir, dass wir uns aufraffen, die Institutionen – vor allem die politischen – zu übergehen, denn diese haben auf weiter Flur versagt. Wir müssen selbst losgehen und handeln. Jetzt sofort. Und wir müssen anfangen, Eigenkapital zu investieren. Und wenn es nur ein bisschen unseres Reichtums ist. Das ist unsere Verantwortung. (Wojciech Czaja, 19.9.2015)