Weite Teile der österreichischen Gesellschaft haben zuletzt aktiv und engagiert jene zehntausende Menschen willkommen geheißen, die als Flüchtlinge vor Krieg, Gewalt und Tod aus dem Nahen Osten kommend den Weg in die Europäische Union gewählt hatten. Es war, als sei eine bis dahin schweigende Mehrheit in Österreich aufgestanden, um Zeugnis dafür abzulegen: Ihr Weg ist ein anderer als jener, der bis dahin durch eine zögerliche Politik und wütenden Nationalismus vorgegeben schien.

Gegen das Zögern

Menschliche Tragödien und deren mediale Vermittlung hatten schlagartig aufgerüttelt. Das ak tive Engagement der nun nicht mehr schweigenden Mehrheit ließ den Nationalismus für einen Moment lang in betretenes Schweigen verfallen und erleichterte der Politik, das Zögern hinter sich zu lassen.

Jene schweigende Mehrheit hatte vor diesen Septembertagen 2015 schon bei jedem Urnengang seit 1945 per geheime Stimmabgabe unter Beweis gestellt, dass sie nichtnationalistischen Alternativen eindeutig den Vorzug gibt. Seine Bereitschaft zu integrem und menschenwürdigem Umgang mit Flüchtlingsströmen hatte das Land schon quer durch die Jahrzehnte davor wiederholt demons triert: in der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenso wie in der Ungarn-Krise, nach dem Sowjeteinmarsch in die Tschechoslo wakei ebenso wie nach dem Putsch gegen Allende in Chile oder während des Bürgerkrieges in Ex-Jugoslawien.

Neu und nicht selbstverständlich am Aufstehen der schweigenden Mehrheit im September 2015 war also Folgendes: Die Präferenz einer Mehrheit für einen nicht nationalistischen Weg wurde praktisch und öffentlich gemacht, indem diese sich für solche Flüchtlinge engagierte, zu deren Begrüßung Politik und Medien nicht von sich aus aufgerufen hatten.

Vielmehr waren die meisten Verantwortlichen in Politik und Medien zutiefst überrascht davon, dass und wie sehr ohne ihr eigenes Zutun da eine schweigende Mehrheit aktiv wurde für Flüchtlinge, deren Herkunft als "politisch unpassend" gegolten hatte.

Führende Kreise in manchen Nachbarländern Österreichs lancierten demgegenüber eine Haltung, die auch dem heimischen Nationalismus nicht fremd ist: Wir suchen uns jene Flüchtlinge aus, die uns gefallen, heißt es da im Grunde – "christliche Orientalen" etwa sind mit unseren Vorlieben vereinbar, andere Orientalen hingegen nicht.

Diese Art der Selektion zwischen "guten und schlechten Orientalen" fußt in Mitteleuropa tatsächlich auf einer jahrhunderte alten Tradition, die Ostmitteleuropa als Grenzbollwerk Europas und des "christ lichen Abendlandes" gegen diverse orientalische Gefahren begreift. Dieser schlechten Tradition liegt ein post imperialer und nationalistischer Mythos zugrunde, in dem unsere Identität als eine von kämpferischen Grenzwächtern gegen den Südosten und Osten hin beschworen wird.

Emotional aufgeheizt und benutzt werden konnte diese schlechte Tradition immer wieder für ganz verschiedene Zwecke: vom Kampf gegen die "Türken" über die "Zivilisierung des Balkans" bis hin zur Verherrlichung einer "Ostmark".

Was die nun nicht mehr schweigende Mehrheit in Nickelsdorf und Salzburg, am Wiener Westbahnhof und anderswo im Land Anfang September hingegen gelebt und praktiziert hat, beweist, dass hierzulande andere Identitäten gewollt und gefühlt werden als jene von kämpferischen Grenzwächtern: Das schließt auch reichhaltige und ethisch gute Traditionen mit ein, die Österreich nicht länger als Grenzbollwerk begreifen, sondern als Mittler und Brücke im Herzen Europas.

Auch diese Tradition hat eine lange Geschichte, die von Maria Theresia bis hin in die Kernphasen der Zweiten Republik reicht. Zugleich haben die Menschen Anfang September auch einander und der Welt vorgelebt, dass diese Tradition nicht nur eine stolze Vergangenheit, sondern auch eine ausbaufähige Zukunft hat. (Andre Gingrich, 18.09.2015)